12. November 2010

Die zweite Deutsche Einheit

Von nst_xy

Anmerkungen zu einer großen Rede

Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland haben nicht wirklich viel zu sagen. Die Verfasser des deutschen Grundgesetzes haben nach der Erfahrung der Weimarer Republik sorgsam darauf geachtet, dass sich in Deutschland nicht wieder zuviel Macht in der Hand eines Menschen bündeln kann.

Doch gerade weil deutsche Präsidenten nicht wirklich viel zu sagen haben, ist das Wort ihre stärkste Waffe. Richard von Weizsäcker hat das unter Beweis gestellt mit seiner historischen Rede vom 8. Mai 1985, in der er den 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft” bezeichnete. Große Aufmerksamkeit erlangte auch Roman Herzog, als er am 26. April 1997 in Berlin dafür eintrat, dass ein Ruck durch Deutschland gehen müsse. Und Johannes Rau machte aus den „Berliner Reden” eine regelrechte Tradition.

Entsprechend hoch waren die Erwartungen an die Rede, die der neue deutsche Bundespräsident Christian Wulff zum 3. Oktober, dem 20. Jahrestag der Deutschen Einheit, angekündigt hatte.

Wulff hat – so meine ich – seine Chance genutzt und eine wirklich große Rede gehalten und dem Begriff der „Deutschen Einheit” eine neue Bedeutung gegeben. Er hat ihn geöffnet auf die innere Einheit Deutschlands, insbesondere im Hinblick auf die Zuwanderer, vor allem auch jene muslimischen Glaubens.

Vor 20 Jahren hatte der Ruf „Wir sind das Volk! Wir sind ein Volk!” die Mauer zum Einsturz gebracht und die zwei Staaten wieder zueinander geführt. Wulff hat nun deutlich gemacht, dass dieser Ruf heute die Einladung zu einer neuen, einer zweiten Deutschen Einheit bedeutet.

Diese Einladung zeugt aus zwei Gründen von Mut und visionärer Kraft: Zum einen ist die „erste” Deutsche Einheit noch längst nicht abgeschlossen. Statt der von Helmut Kohl versprochenen blühenden Landschaften gibt es in der ehemaligen DDR immer noch Regionen, die eher veröden und sich entvölkern. Den gut eineinhalb Millionen Westdeutschen, die in den Osten umgesiedelt sind, stehen fast doppelt so viele Abwanderer gegenüber. Und in vielen Bereichen sind die Lebensbedingungen im Osten noch immer entschieden schlechter als im Westen. In einer solchen Situation den Blick zu weiten auf die Integration weiterer Gruppierungen ist mutig.

Es gibt einen zweiten Grund für diese Einschätzung: Mit der Öffnung der Einheitsbestrebungen auf Menschen mit Migrationshintergrund kann man derzeit in Europa – und auch in Deutschland – nicht viele Sympathiepunkte erringen. Nach einer von der Financial Times veröffentlichten Umfrage sind 55 Prozent der Deutschen der Meinung, dass muslimische Migranten sozial und finanziell mehr kosten, als sie wirtschaftlich erbringen. Und mehr als ein Drittel der Deutschen ist davon überzeugt, dass Deutschland durch die Einwanderer „auf natürlichem Weg durchschnittlich dümmer” werde. Das ist der Hintergrund, auf dem populistische, nationalistische und rassistische Rattenfänger – auch in Deutschland – erfolgreich ihre Pfeifen spielen.

Christian Wulff hat sich am 3. Oktober 2010 klar gegen diese reale oder vermeintliche Mehrheitsströmung gestellt: Die Einheit eines Volkes – so die Quintessenz seiner Rede – kann nicht nur eine geografische oder wirtschaftliche Angelegenheit sein. Einheit ist mehr als die Verbindung zwischen zwei Partnern, mehr als der Ausgleich zwischen Ungleichen. Sie ist ein ständiger und dynamischer Prozess und muss daher immer wieder neu erstrebt und gewonnen werden. Das verlangt bei aller notwendigen Behauptung des Eigenen immer auch Offenheit und Bereitschaft zur Veränderung.

Respekt, Herr Präsident!
Joachim Schwind

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2010)
Ihre Meinung ist uns wichtig, schreiben Sie uns! Anschrift und Email finden Sie unter Kontakt.
© Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München