12. November 2010

Einer muss anfangen!

Von nst_xy

Charles Morfaw aus dem Kamerun hätte den bequemen Weg wählen und in Deutschland bleiben können. Stattdessen ist er nach dreizehn Jahren wieder in sein Heimatdorf zurückgekehrt. Dazu bewogen hat ihn das Verantwortungsgefühl für sein Volk.

Von Bellah nach Bonn. Charles Morfaw war 23 und konnte kein Wort deutsch, als er 1989 aus dem kleinen Dorf im Kamerun nach Europa kam. Er wollte auf die Uni, hatte jedoch keinen Studienplatz und keine Unterkunft, nur ein Touristenvisum. Zudem fand er es recht kühl, das Wetter wie auch die menschlichen Beziehungen – ein Kulturschock! Aber davon ließ er sich nicht entmutigen: „Wenn ich jemanden auf der Straße sah, hab ich ihn gegrüßt. Kam dann nichts zurück, war das sein Pech. Aber ich war überzeugt, dass ein ,Guten Morgen!’ vieles positiv verändern kann. Viele Deutsche öffnen sich, wenn man sich ihnen angemessen nähert!”

Charles Morfaw studierte in Bonn Pädagogik und heiratete Maureen, eine afrikanische Mitstudentin.

Bald erfuhr er, dass sein Vater ihn zu seinem Nachfolger bestimmt hatte als Chief von Bellah. Jedes Dorf in Charles’ Heimat wird traditionell von einem Ältestenrat geführt. Der spricht Recht und sorgt für den sozialen Frieden im Dorf. Der Chief ist der Vorsitzende des Ältestenrates, das geistliche Oberhaupt des Dorfes, zuständig für die Verteilung von Land und Vermittler zwischen Behörden und Dorfbewohnern, die oft nicht lesen und schreiben können.

Anfangs konnte Charles sein neues Amt nur aus der Ferne ausüben. Ein Chief in Bonn, das wirkte exotisch und sprach sich schnell herum. Plötzlich war er eine wichtige Persönlichkeit, wurde zu Empfängen eingeladen, begegnete Papst Johannes Paul II. und dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton: „Die Medien interessierten sich für mich. Als einfacher Student wäre das nie denkbar gewesen.”

Als Charles nach dreizehn Jahren mit seiner Frau und den mittlerweile vier Kindern nach Bellah zurückkehren wollte, erklärte ihn ein Kameruner Studienkollege für verrückt: „Zurück zu gehen hieß in seinen Augen bereit sein, mit dem Teufel zu leben”, erklärt Charles mit Blick auf die harten Lebensbedingungen und gesellschaftlichen Zwänge in seiner Heimat. „Mit ,vielleicht… ‘ hat man keine Chance. Man muss den unbedingten Willen haben, etwas zu bewegen. Für Maureen und mich war die Frage: Wenn wir Kameruner Studenten alle im Ausland bleiben, wer soll dann anfangen, etwas zu verändern? Einer muss anfangen! Darin sahen wir unsere Aufgabe.” Einer muss anfangen!

In Bellah war viel zu tun. Das Dorf hatte weder Strom noch medizinische Versorgung. Von der Universitätsstadt Dschang waren es nur 45 Kilometer, die sich aber in der Regenzeit in fast unpassierbare Schlammwege verwandelten. Charles hatte in Deutschland viele Freunde gefunden, die ihn in Afrika nicht im Stich ließen. Mit ihrer Hilfe konnte er ein Trinkwasserprojekt verwirklichen, für ein kleines Wasserkraftwerk und eine Krankenstation sorgen.

Das Wichtigste aber war für die studierten Pädagogen Charles und Maureen mehr Bildung für die Kinder.

Ihr Traum war es, in Dschang einen Kindergarten und eine Grundschule für alle zu bauen. Nicht nur für Reiche, die das Schulgeld leicht aufbringen können. Von den Behörden im eigenen Land waren keine Zuschüsse zu erwarten. „Korruption ist ein ernstes Thema bei uns”, beklagt Charles. „Wenn ich jemanden schmiere, erreiche ich vielleicht etwas. Aber das wollten wir auf keinen Fall!” Lieber fingen sie klein an mit ihrem Schulprojekt und gingen dann kontinuierlich weiter, Schritt für Schritt: „Am Schulgebäude haben wir jedes Jahr einen Raum angebaut. Für so ein Vorgehen hätte es in Deutschland unmöglich eine Genehmigung gegeben!”

Rainbow – Regenbogen heißen die zweisprachige Grundschule und der dazugehörige Kindergarten. Ihr Motto soll für Qualität in der Bildung sorgen: Hard work, prayers, patience – Fleiß, Gebete, Geduld. „Es braucht Leistung, und die ist für Heranwachsende harte Arbeit”, erklärt Charles den ersten der drei Begriffe. „Da dürfen wir keine Abstriche machen. Und Gottesdienst und Gebet gehören zum Alltag dazu. Denn Religion ist Teil unserer Kultur. Europäer meinen oft, sie könnten auf Gott verzichten und dafür alles mit der Wissenschaft schaffen. Bei uns kann man sich dagegen nicht vorstellen, unabhängig von Gott zu leben.” Und Geduld: „Anfangs waren die Eltern verwundert, dass bei uns nicht geschlagen wird. Weil hier Pädagogik normalerweise nur mit Stock funktioniert. Zwar ist auch bei uns eine gewisse Strenge nötig, aber dafür erfahren die Schüler auch viel Anerkennung.”

Zum hohen Standard in der Rainbow-Schule trägt ein gut ausgebildetes Lehrpersonal ebenso bei wie die geringe Klassengröße von maximal 35 Kindern. In staatlichen Schulen müssen sich doppelt so viele in ein Klassenzimmer zwängen. „Die Fahrtkosten für das ganze Jahr liegen mit unseren vier Kleinbussen unter 50 Euro”, sagt Charles stolz. Dazu kommt das jährliche Schulgeld mit noch mal 100 Euro, inklusive Mittagessen. „Das ist für viele Familien immer noch viel Geld, aber Bildung muss auch ihren Preis haben. Dafür nehmen wir auf Krankheitsfälle oder andere Probleme in den Familien Rücksicht. Unser System ist nicht starr. Denn uns geht’s nicht um Profitmaximierung, sondern darum, wie eine große Familie zu leben.” Das zeigt sich auch in der Architektur: Der große Schulsaal ist für 800 Leute ausgelegt, als Treffpunkt für alle.

Die Rainbow-School besteht heute aus zwei Grundschulen mit 500 Kindern von der 1. bis zu 6. Klasse. Sie gilt als eine der besten Schulen der Region.

Aber bis es so weit war, mussten Charles und Maureen etliche Hürden überwinden. Ein anderes Problem: Von einem Chief wird erwartet, dass er viele Frauen hat!

Charles Vater hatte zehn; Polygamie ist im Kamerun erlaubt. „Ich habe kein Recht, andere zu verurteilen, die nach unseren Traditionen leben. Aber für mich kam das nicht in Frage: Ein Leben mit mehreren Frauen kann ich mit meinem christlichen Glauben nicht vereinbaren.”

Afrika und Europa: So wie Charles lernen musste, sich in beiden Welten zurechtzufinden, so müssen es auch die Kinder seines Volkes lernen.

Dafür soll sie die Rainbow-Schule fit machen: „Unsere Kinder in der Stadt leben in westlichen Verhältnissen, was die Technik angeht. Aber sie müssen auch mit dem Plumpsklo im Dorf klar kommen. Wir müssen eine Bildung entwickeln, die für uns angemessen ist. Für den Fortschritt brauchen wir Straßenbau, Agrarwissenschaft, technische Bildung, darauf baut ja die Wirtschaft auf.”

Entwicklungshilfe darf keine Einbahnstraße sein, meint Charles. Daher kommen immer wieder junge Deutsche für einige Monate als Praktikanten nach Bellah und Dschang. Hier erleben sie, dass die Leute weniger Geld haben, aber trotzdem glücklicher sind, weil sie sich mehr umeinander kümmern. „Viele Europäer geben sich mit einer Scheinwelt zufrieden, mit materiellen Sicherheiten. Aber die tiefe innere Zufriedenheit fehlt. Dennoch begegnen sie uns oft überheblich. Nord und Süd müssen voneinander lernen. Das geht nur, wenn wir miteinander leben und miteinander reden, und zwar auf Augenhöhe.”

Schwierigkeiten gehören für Charles zum Leben dazu. Zuversicht und Sicherheit gibt ihm ein Schlüsselerlebnis aus seiner Zeit in Deutschland: „Ich hatte schon in meiner Heimat von der Gründerin der Fokolar-Bewegung gehört. Aber erst im Jahr 2000 bin ich Chiara Lubich das erste Mal begegnet, im Dom von Paderborn, und da habe ich geweint. Denn ich habe gespürt: Gott ist groß, aber vor ihm brauche ich keine Angst zu haben. Er hat einen Plan mit mir, und dem kann ich folgen. Einmal wird er mich fragen: Was hast du mit deinen Talenten für mich getan? Jetzt bin ich 44 und kann sagen: Mit Seiner Hilfe haben sich trotz aller Probleme die meisten Wünsche erfüllt.”

Dietlinde Assmus

Charles Morfaw erzählt seine Geschichte in dem Buch: Leben in zwei Welten. Student in Bonn – Chief in Fontem-Kamerun. Dialogverlag Münster, 2007.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2010)
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