13. Januar 2011

Der Feind in mir?

Von nst_xy

Warum abgelehnte Eigenschaften in uns größer werden

Schon als ich das erste Mal mit ihr telefonierte, merkte ich, wie ich nervös wurde. Eine Mutter meldete sich bei mir, weil ihr zweijähriger Sohn so wild und unruhig sei. Sie falle überall mit ihm auf.

Im Verlauf der Gespräche spürte ich immer wieder die starke Nervosität, die von der Frau ausging. Meine Idee war, dass nicht nur ich das empfinde, sondern davon auch etwas auf ihren Sohn und ihre Umwelt ausstrahlt. Darauf angesprochen erklärte sie, dass sie schon seit Jahren versuche, ihre Ruhelosigkeit loszuwerden, aber es gelinge ihr nicht.

Verständlicherweise möchten wir unsere ungeliebten Eigenschaften am liebsten in die Wüste schicken. Es ist nur so: Bei viel Sonne gedeihen sie besonders gut! Anders gesagt: Wenn wir abgelehnte Eigenschaften und Charakterzüge verdrängen, verschwinden sie nicht, sondern nehmen eher zu. Oder sie kommen in besonders ungünstigen Momenten wieder zum Vorschein.

Wie können wir dann mit unseren vermeintlichen Schwächen umgehen? Mit der Mutter beginne ich ein Rollenspiel: Wir stellen uns vor, ihre Nervosität sei eine eigenständige Person, mit der sie in Dialog treten kann. Was hätten sie sich zu sagen? Es kommen Beschimpfungen gegen die Nervosität und der Wunsch, sie möge doch endlich verschwinden.

Doch nachdem die „Beiden” länger miteinander im Gespräch sind, zeigt sich auch eine andere Seite: Die Nervosität war erstmalig bei einem früheren Lebensereignis als Schutz für die Frau aufgetreten. Die abgelehnte Eigenschaft hat also eigentlich friedliche Absichten, wird aber penetrant, wenn man nicht auf sie hört. Sie möchte Antreiberin für positive Veränderungen sein.

Am Ende kommt es zu einem Moment der Versöhnung, bei der die Mutter die guten Absichten der Nervosität würdigen kann. Im Gegenzug wird ihr zugesagt, dass die Nervosität jetzt lockerer lassen wird. Denn dauernd im Streit miteinander zu sein, so sind sich „beide” einig, ist ganz schön anstrengend!
Sebastian Baumann

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2011)
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