13. Januar 2011

Senioren miteinander füreinander

Von nst_xy

Wer würde nicht davon träumen: im Alter in einer Hausgemeinschaft zu leben, in der jeder seine Privatsphäre hat und zugleich alle nach Kräften solidarisch füreinander einstehen? Die Mitglieder der Sozialgenossenschaft „MITEINANDER eG” in Augsburg haben einen Weg gesucht, diesen Traum zu verwirklichen.

Hildegard Weigel schaut auf die verbliebenen Umzugskisten in ihrem neuen Zuhause. „Seit Wochen habe ich schon aussortiert, aber trotzdem ist es noch viel zu viel.” Die Möbel stehen schon an Ort und Stelle, aber in der neuen Küche fehlen noch der Wasseranschluss und die Spüle. Beim Blick aus dem Fenster auf halbfertige Rohbauten und einen Baukran hat man den Eindruck einer Baustelle. Aus den Worten der 74-Jährigen klingt Pioniergeist: „Ich bin immerhin die Erste, die hier übernachtet hat! Das bleibt in der Geschichte!” Aber sie fügt auch ehrlich hinzu: „ „Gestern wollte ich fast wieder weg; heute geht’s schon. Gott sei Dank ist mein Nachbar gegenüber noch nicht eingezogen: Seine Küche ist schon komplett, und ich kann sie erst mal nutzen.”

Das war Anfang Oktober. Hildegard Weigel kam am Vortag von Geretsried im Süden Münchens nach Augsburg. Sie ist eine von 21 „Erstbesetzern”, wie die Mieter des neu erbauten vierstöckigen Wohnhauses sich selbst schmunzelnd nennen. Das Haus wurde komplett von der gemeinnützigen Sozialgenossenschaft „MITEINANDER eG” angemietet und an 15 Parteien weitervermietet.

Der Gemeinschaftsraum auf der Penthausebene steht allen zur Verfügung und ist nicht nur schmückendes Beiwerk in dem hellen, barrierefreien Neubau.

Die meisten Neumieter sind nämlich wie Hildegard Weigel „Genossinnen und Genossen” der „MITEINANDER eG”, gut über 65 Jahre alt und wollen gemeinsam ein neues Modell von Betreutem Wohnen im Alter umsetzen.

„Alles begann für mich schon vor vielen Jahren,” berichtet Angelika Wagenseil. Die 44-jährige Alten- und Krankenpflegerin ist eine „Freiwillige”; die Bezeichnung steht für Frauen und Männer, die aus dem Geist der Fokolar-Bewegung ihr gesellschaftliches Umfeld prägen wollen.

„Vielleicht weil ich in einer Sozialstation arbeite, habe ich mich immer wieder gefragt, was aus unseren Älteren einmal wird: Die meisten leben schon Jahre aus der gemeinschaftlichen Spiritualität; wir teilen unser Leben im Geist der gegenseitigen Liebe; uns verbindet mehr als Freundschaft! Und wenn sie alt sind, bleiben sie allein?”, so beschreibt Angelika Wagenseil ihre Überlegungen. Das konnte nicht sein! Warum also nicht von einem gemeinsamen Wohnprojekt träumen, das diesen Lebensstil auch im Alter ermöglicht?

Etwa 14 Jahre bewegen Angelika Wagenseil diese Gedanken. Dass sie damit nicht allein war, bemerkte sie, als sie vor etwa vier Jahren begann, mit anderen darüber zu sprechen. Der Bedarf war da. Und es fanden sich auch jüngere Mitstreiter, die sich bei der Planung und Umsetzung einbringen wollten. „Sehr schnell haben wir jedoch ernüchtert festgestellt, dass wir mit einem Neubau finanziell hoffnungslos überfordert wären.”

Trotzdem blieben alle dran, ganz nach dem Motto: „Wenn es richtig ist, werden sich auch die Wege zeigen.” Und genau so war es dann auch. Sie erfuhren, dass die Hans Heyne-Stiftung in Augsburg ein Haus bauen wollte. Das Stiftungsziel passte: zur Beheimatung von Menschen im Alter beitragen. Ihre Pläne fanden dort sofort Gehör. Um der Stiftung jedoch ein Gegenüber zu sein, mussten sich die Interessenten organisieren.

Über die Zeit danach könnte Bruno Czaputa, ehemaliger Manager und zusammen mit seiner Frau Sigrid auch ein „Erstbesetzer” am Anna-Krölin-Platz, Bücher schreiben: In unzähligen Gesprächen, Mails und Telefonkonferenzen mussten sie „ihre” Organisationsform finden und entschlossen sich zur Gründung einer Sozialgenossenschaft. „Die Satzung sollte unser gemeinsames Anliegen widerspiegeln und ebenso Raum dafür lassen, dass sich auch andere Projekte zukünftig unter unserem Dach ansiedeln können”, erklärt Bruno Czaputa. „Weil keiner von uns so etwas jeden Tag macht, war es doch ein ganz schöner Kraftakt!” Aber sie haben es geschafft. In nur sechs Wochen stand die Satzung, und am 1. Dezember 2007 war es so weit: Die Gründungsversammlung konnte stattfinden; zwei jüngere, ehrenamtlich tätige Vorstände konnten gewonnen werden.

Bis sie dann in ihr neues Zuhause umzogen, konnten die frisch gebackenen „Genossinnen und Genossen” aber nicht einfach die Hände in den Schoß legen. Zu vieles gab es zu besprechen und zu klären. Und weil sie so weit verstreut lebten – von Ulm über Augsburg und Wolfratshausen bis nach Rom -, nutzten sie Telefonkonferenzen. Alle sechs bis acht Wochen haben sie so „tausend praktische Sachen” besprochen: wer welche Möbel übrig hatte, wer wann einzog, welche Umzugshelfer gebraucht wurden, wie sie den Gemeinschaftsraum einrichten wollten, und vieles mehr. „Wir haben uns aber auch gegenseitig Mut gemacht, wenn Zweifel aufkamen,” erzählt Sigrid Czaputa von diesen Gesprächen. „Einige wollten sofort einziehen. Andere haben im Lauf der Zeit gemerkt, dass sie noch nicht so weit waren, alles – Haus und Hof, die Heimat und alle Bindungen – hinter sich zu lassen. Einige stehen jetzt auf einer Warteliste.”

Dreimal haben sich die interessierten Mitstreiter auch getroffen, einmal einen ganzen Tag. „Dabei”, so erinnern sich Czaputas, „sollte jeder sagen, was er vom Miteinander erwartet, wünscht oder befürchtet.”

Das Ergebnis: „Distanz” und „Nähe” sollte im Gleichgewicht sein, was so viel hieß wie „zusammenleben ja; füreinander da sein eindeutig; aber auch die Möglichkeit haben, die Tür hinter sich zumachen zu können!”

Menschen, die im Alter in einer Hausgemeinschaft zusammenleben, in der jeder seine Privatsphäre hat und zugleich alle füreinander nach Kräften solidarisch einstehen wollen. So lautet der zentrale Grundsatz in der Präambel des Augsburger Wohnprojektes.

Was das nun im Alltag bedeutet? Das müssten sie auch selbst noch herausfinden. Noch treffe man sich häufiger im Keller als im Gemeinschaftsraum, erzählen die neuen Bewohner nach zwei Monaten. „Bisher war jeder damit beschäftigt, seine Kisten auszupacken und die Dinge zu ordnen. Aber jetzt haben wir eine monatliche Kaffeerunde vereinbart. Dabei werden offene Fragen behandelt, Informationen ausgetauscht und über dieses und jenes gesprochen. Nach und nach werden sich sicher auch andere Fixpunkte ergeben.”

Angelika Wagenseil, die beruflich in einer Sozialstation andere Häuser von Betreutem Wohnen begleitet, koordiniert auch die Betreuungsdienste für die „MITEINANDER eG”, die in einer Betreuungs-Vereinbarung mit den Mietern geregelt sind. So ist Angelika Wagenseil derzeit einmal wöchentlich vor Ort, hilft bei der Suche nach neuen Hausärzten, lernt die Gewohnheiten der Bewohner näher kennen, erfasst, welche Patientenverfügungen und Vollmachten vorhanden sind und wer im Notfall zu verständigen ist. Bei Bedarf wird sie sich zukünftig auch um die Vermittlung weiterer Unterstützungsdienste kümmern.

So weit ist das wie in anderen Häusern. Trotzdem sieht die Altenpflegerin schon nach wenigen Wochen einen Unterschied: „Die jahrelange Übung im Leben einer gemeinschaftlichen, ökumenischen Spiritualität prägt schon jetzt die Atmosphäre! In anderen Häusern muss ich in der Regel nach einigen Wochen anregen, dass die Bewohner einen Ersatzschlüssel bei jemandem deponieren für den Fall, dass sie sich ausschließen,” erzählt sie. „Hier ging das ganz von selbst. Man spürt darin den gegenseitigen Vertrauensvorschuss.” Auch der Briefträger habe das schon bemerkt! Ganz erstaunt sei er gewesen, dass er immer jemanden finde, um Post zu hinterlassen, wenn der Empfänger nicht da sei – „und das, obwohl alle erst eingezogen sind!”

Außerdem – so Angelika Wagenseil weiter – warten die Bewohner nicht ab, bis ich einen Impuls gebe; sind selbstständig, wenn Fragen auftauchen; organisieren sich und informieren mich dann.” Beeindruckt zeigt sie sich auch von dem Mut, dieses Wagnis im Alter einzugehen. Die Hausgemeinschaft will also so weit und so lange wie möglich das Rückgrat bilden, das sonst manchmal durch eine Familie da ist.

„Aber wir sind keine Wohngemeinschaft, und das wollen wir auch nicht!”, unterstreichen Irmgard und Werner Hengge, die für ihr neues Domizil ein zweistöckiges Haus mit Garten in Ulm aufgegeben haben. „Trotzdem ist das Miteinander ein wesentlicher Bestandteil – und wahrscheinlich auch ein Grund dafür, dass alle sich von Anfang an hier im Haus wohlgefühlt haben! Nun wird sich zeigen, wie wir unser Zusammenleben weiter gestalten.”

Gespannte Erwartung, aber auch freudige Gelassenheit sprechen aus diesen Worten. „Bisher haben wir immer wieder erlebt, wie sich zu auftauchenden Problemen auch die Antworten fanden”, erinnern sich auch Czaputas zuversichtlich an den bisherigen Weg, „manchmal, wo wir sie gar nicht erwartet haben. Wir lassen uns also überraschen!”
Gabi Ballweg

Gemeinnützige Sozialgenossenschaft MITEINANDER eG, Anna-Krölin-Platz 1a, 86153 Augsburg, Karin Bitzkowski und Thomas Hüttl (Vorstände).

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2011)
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