13. März 2011

Wenn der Vater fehlt

Von nst_xy

Weil Papa und Mama sich getrennt haben, wächst bei uns ein Fünftel der Kinder mit nur einem Elternteil auf, meistens ohne Vater. Darunter leiden vor allem Jungen: Bei der Entwicklung zum Mann fehlt ihnen die entscheidende Bezugsperson. Matthias Franz von der Uniklinik Düsseldorf über die Langzeitfolgen der Vaterlosigkeit.

Immer mehr Kinder wachsen ohne Väter auf. Was hat das für Konsequenzen?

Franz: Wie wichtig der Vater ist, wurde erst in den letzten zwanzig Jahren eingehender untersucht. Aus unseren Langzeitstudien mit Kriegskindern wissen wir, dass sich Vaterlosigkeit noch ein halbes Jahrhundert später bemerkbar machen kann. Die heutige, meist trennungsbedingte Vaterlosigkeit wirkt sich bei Jungen stärker aus als bei Mädchen: Stichwort ADHS, das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom. Untersuchungen zeigen, dass Jungen, denen der Vater fehlt, doppelt so oft verhaltensauffällig werden wie Jungen aus Zwei-Eltern-Familien.

Ein weiteres Problem kann der Ablösungsprozess von der Mutter sein, weil sie oft selbst bedürftig ist. Das Depressionsrisiko ist für alleinerziehende Mütter zwei- bis dreifach erhöht. Vielen Kindern fällt es dann – wie im Lied „Hänschen-klein” besungen – schwer, sich guten Gewissens abzunabeln. Die mangelnde Selbstständigkeit wiederum kann später zu seelischen Beeinträchtigungen führen: Wir sehen dann auch bei den ehemaligen Kindern im Alter von 30, 40 Jahren ein deutlich erhöhtes Depressionsrisiko.

Speziell für Jungen im Alter von drei bis fünf Jahren hat der Vater große Bedeutung. Sigmund Freud hat das die ödipale Phase genannt, die Zeit, in der wir unsere sexuelle Identität erproben und festigen. Dazu brauchen wir den gegengeschlechtlichen Elternteil, aber auch den gleichgeschlechtlichen. Wenn hier dem Jungen das Modell fehlt, hat er offensichtlich häufiger Probleme.

Sie haben Depressionen angesprochen. Worunter leiden Alleinerziehende noch?

Franz: Es gibt zwei große Leidensfelder. Das erste ist die Armut; davon sind alleinerziehende Mütter stärker betroffen als die zehn Prozent alleinerziehenden Väter. In unserer Düsseldorfer Studie waren etwa vierzig Prozent der alleinerziehenden Mütter von sozialen Transferleistungen abhängig. Niedrige Einkünfte und Alleinverantwortung zwingen sie, arbeiten zu gehen, oft in Vollzeit: Nicht selten eine große Belastung für Mutter und Kind!

Das zweite Leidensfeld ist die Einsamkeit: Allein erziehen heißt oft auch allein gelassen. Nicht nur die Partnerschaft ist gescheitert, auch der Freundeskreis schmilzt zusammen. Dazu macht oft die eigene Herkunftsfamilie Schwierigkeiten, wo die Mutter oder der Vater immer schon gewusst haben, dass dieser Mann nicht der Richtige war. Diese Mischung von Armut und Einsamkeit macht auf Dauer krank. Das wirkt sich auch auf die Kinder aus.

Was passiert, wenn für die Mutter als einzige Beziehung nur noch die zum Kind übrig bleibt?

Franz: Viele alleinerziehende Mütter brauchen einfühlsame Unterstützung. Kinder spüren so etwas. Sie bemerken sofort die Bedürftigkeit ihrer Eltern und richten sich danach. Im Extremfall kommt es zum Rollentausch: Das Kind schlüpft in die umsorgende Elternrolle, die Mutter gerät in die bedürftige Kindrolle.

Schon ein kleines Kind wirkt auf diese Weise gleichsam als seelisches Antidepressivum. Der Preis für diesen Heilungsversuch ist jedoch hoch, denn damit verzichtet das Kind auch auf die Entwicklung seiner Autonomie und der Sensibilität für die eigenen Wünsche und Bedürfnisse. Zwar ist das Kind überfordert, lässt das aus Liebe zur Mutter und aus Angst aber zu. Es tut alles dafür, dass es der Mutter wieder gut geht und sie wieder ganz für das Kind da sein kann. Hier sind Gesellschaft und Politik gefragt, Unterstützung zu geben und Lösungen zu ermöglichen, die auch der Bedeutung der Väter gerecht werden.

Hält die Überforderung an, kann es zu einem kindlichen Burnout-Syndrom kommen. Mädchen ziehen sich dann eher zurück. Jungen tendieren dazu, mit verstärkter Aggressivität Hilfssignale zu schicken. Viele als hyperaktiv oder verhaltensauffällig geltende Jungen suchen letztlich einen anleitenden, schützenden Vater: Wo bist du, zeig mir, wie ich mit meinen Irritationen und Spannungen gut umgehen kann. Aber dieses Bezugsund Bindungsbedürfnis bleibt häufig unverstanden: Viele Betreuer greifen dann vorwiegend symptom-orientiert ein, was das Kind noch einsamer werden lässt. Deshalb ist es wichtig, Mütter und Kinder in einer so schwierigen Lage abzuholen und in ihrer Beziehungsfähigkeit zu stärken, zum Beispiel therapeutisch oder durch ein Elterntraining.

Was kann die frühe Elternrolle beim Kind für Langzeitwirkungen haben?

Franz: Neben psychischen Beeinträchtigungen kann es später bei der Partnerfindung Probleme geben. Das Scheidungsrisiko ist deutlich höher als bei Kindern aus Zwei-Eltern-Familien.

Das hört sich vielleicht alles sehr finster und bedrohlich an. Ich betone aber, dass es hier um eine Minderheit geht, wenn auch um eine große: Dreißig bis vierzig Prozent der alleinerziehenden Mütter geht es nicht so gut. Aber das heißt auch, dass die Mehrzahl mit der Lebenssituation zurechtkommt und auch gut für ihre Kinder sorgen kann.

Auch Kindergarten und Grundschule bieten oft nur weibliche Bezugspersonen. Wie bewerten Sie das?

Franz: Es scheint tatsächlich manchmal, als bliebe für viele Jungs nur der Hausmeister als Identifikationsfigur übrig. Sonst erleben sie Männer fast nur noch als Zerrbilder in den Medien. Die vaterlosen Jungen sind zu einem Milliardengeschäft geworden: Die Film- und Spielindustrie nutzt die Vater-Sehnsüchte der Jungen aus und setzt ihnen als Vorbilder brutale Vollstrecker vor. Es ist nicht ohne Risiko, wenn sie in ihrer realen Welt kaum noch Männer erleben, von denen sie den Umgang mit echten Konflikten und Aggressionen lernen können.

Das heißt nicht, dass für sie eine weibliche Erziehungs- und Schulumgebung an sich schlecht sein muss. Natürlich können auch Frauen Jungen fördern. Es hängt davon ab, ob sie deren speziellen Entwicklungsbedürfnissen, die sich von denen der Mädchen unterscheiden, mit spürbarer Wertschätzung begegnen. Das heißt: Nicht bei jeder kleinen Rauferei sofort den Zeigefinger heben, sondern bei kleinen Rang- und Wettbewerbskämpfen auch mal großzügig sein; die Jungen vielleicht nicht zu rhythmischer Sportgymnastik und Schleiertanz verpflichten, sondern ihnen eine Fußballoder Raufstunde einräumen. Das müsste auch in der erzieherischen Ausbildung noch viel mehr mit entwicklungspsychologischem Wissen unterfüttert werden.

Denn wenn kleine Jungen auf der Suche nach einer selbstbewussten Männlichkeit keine Entwicklungsangebote bekommen, kann bei ihnen ein latent negatives Frauenbild entstehen. Solche Entwicklungen zeichnen sich bei jungen Männern bereits ab: Immer weniger wollen Väter werden. Sie lieben vielleicht eine Frau, finden deren Kinderwunsch aber bedrohlich.

Heißt das, diese jungen Männer können keine festen Bindungen mehr eingehen?

Franz: Vielleicht schon noch, aber eher mit einer narzisstischen Sexualität: Partnerschaft als wechselseitige Selbstliebe, ohne die Perspektive eigener Kinder. Denn der Rollenwechsel vom jungen Mann, vom Partner zum Vater setzt eine selbstsichere Männlichkeit voraus, die diese Männer häufig in ihrer Kindheit nicht wirklich erwerben konnten.

Dabei gilt es, Schwellenängste zu überwinden. Dazu muss der Mann auf positive innere Bilder zurückgreifen können, die im optimalen Fall der eigene liebevolle Vater vermittelt hat. Wenn aber eine bedürftige Mutter vermittelt hat „Bleib bei mir, mein Kleiner, werde kein Mann, bleib mein Kind und tröste mich”, dann ist beim Wechsel zur Vaterschaft eine Sollbruchstelle vorprogrammiert, weil sich die eigene männliche Autonomie nicht entwickeln konnte. Das sehen Therapeuten heute als soziales und demographisches Großphänomen heranwachsen.

Was ist mit Vätern, die viel unterwegs sind, wenig Selbstbewusstsein haben oder sich aus der Erziehung heraushalten: Hat das für Kinder die gleichen Folgen wie ganz ohne Vater aufzuwachsen?

Franz: Nicht unbedingt. Es kommt darauf an, welchen Stand der Vater in der Familie hat. Natürlich haben wir viele Familien, bei denen der Vater arbeitsbedingt kaum präsent ist. Aber wenn die Mutter ihn gern hat und wertschätzend von ihm spricht, ist die Situation völlig anders als in einem Trennungskonflikt. Da wird die Mama dem Jungen vielleicht vorschwärmen, wie toll es ist, wenn der Papa gleich nach Hause kommt, und der Sohn kann die liebevolle Haltung verinnerlichen. Wenn die Mutter dagegen vermittelt – und sei es unausgesprochen -, dein Papa ist ein Schlimmer, und du bist auch fast schon so wie der, gerät er in schwere Loyalitätskonflikte.

Vielen Dank für das Gespräch!
Clemens Behr

Matthias Franz
Jahrgang 1955, ist Professor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Facharzt für psychosomatische Medizin, Neurologie und Psychiatrie, und psychoanalytiker. Zu seinen hauptarbeitsgebieten gehört die psychologische Bedeutung des Vaters für die Entwicklung des Kindes

Palme
ist ein von Matthias Franz entwickeltes präventives Elterntraining für alleinerziehende Mütter mit Kindern im Vor- und Grundschulalter. Die Gefühle und die Bindung zwischen Mutter und Kind, aber auch die Bedeutung des Vaters stehen im Mittelpunkt. In zwanzig Gruppensitzungen begleitet ein Paar geschulter Erzieherinnen/Erzieher etwa zwölf Mütter. Sie bearbeiten Selbstwertprobleme und Schuldgefühle und üben soziale und elterliche Kompetenzen ein. Ziel ist es, Verunsicherungen und stressbedingte Körperbeschwerden abzubauen, das Einfühlungsvermögen der Mutter in das Erleben des Kindes zu verbessern und die Mutter-Kind-Beziehung zu stabilisieren.

www.palme-elterntraining.de

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März 2011)
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