15. April 2011

An das japanische Volk

Von nst_xy

Was folgt aus Fukushima?

Sehr geehrte Japanerinnen und Japaner,
wir kennen Ihre Nation als eine der höchstentwickelten unseres Planeten, erdbebenerprobt, ein Volk, das sich nicht leicht in die Knie zwingen lässt. Um so mehr haben das Beben vom 11. März und die Wucht des Tsunami unser Weltbild ins Wanken gebracht, die Vorstellungen vom technisch Machbaren über den Haufen geworfen. Die Bilder von Zerstörung, Entsetzen, Trauer und Verzweiflung haben uns erschüttert.
Zu denken gibt uns die Hilflosigkeit der Wissenschaftler und Politiker angesichts der nicht mehr kontrollierbaren Abläufe im Atomkraftwerk von Fukushima. Bis Redaktionsschluss war völlig unklar, was sie noch alles auslösen werden.
Nachdem Sie erst bewundernswert gelassen und diszipliniert geblieben waren, scheint sich nun Panik breit zu machen. Nur zu verständlich: Radioaktive Strahlen können schwerste gesundheitliche Schäden verursachen, auch in folgenden Generationen noch! Grauenhafte Erinnerungen werden wach an Tschernobyl, gar an Hiroshima, Nagasaki.

Ohne Strom läuft nichts. Auch diese Einsicht schlägt uns die Katastrophe neu um die Ohren. Wir sind von ihm abhängig in Industrie, Landwirtschaft, Handel, Haushalt, Transport, selbst in der Kommunikation. Und der weltweite Verbrauch wird steigen, denn auch „ärmere” Länder wollen mit dem Fortschritt mitziehen.

Es gibt Katastrophen, die sind verursacht von Menschenhand, andere sind Werk der Natur. In Fukushima kommt beides zusammen.

Das verheerende Desaster wird Japan verändern, aber werden wir daraus Lehren ziehen? Wir meinen nicht nur Nuklearanlagen abschalten und umweltfreundliche Energieformen fördern. Wir denken dabei auch an ganz andere Fragen: Welche Rückwirkungen hat der Müll, dessen Bestandteile in den ökologischen Kreislauf eindringen, letztlich auf unsere Gesundheit? Wie wirken sich genetische Veränderungen an Pflanzen und Tieren auf unser Erbgut aus? Was legen wir unwissend noch für Zeitbomben, die irgendwann platzen? Oder sind sie längst leise hochgegangen mit der Folge immer neuer Allergien und Tumore?

Der Mensch kann vieles; Forschung und Technik haben Möglichkeiten geschaffen, die unsere Vorfahren nicht einmal erträumt haben. Aber er hat eben auch Grenzen. Nicht alles, was machbar ist, ist auch sinnvoll.
Der Mensch in seiner Selbstüberschätzung hält die Risiken für beherrschbar, kann in Wirklichkeit jedoch gar nicht alle Auswirkungen auf Klima, Pflanzenwelt, Gesellschaft und eigene seelische und körperliche Gesundheit überblicken, besonders, wenn sie erst langfristig eintreten. Aber da ist der Ehrgeiz und der Druck: der wissenschaftlichen Konkurrenz, des wirtschaftlichen Erfolgs, der Lobbys, der politischen Wiederwahl.

Nur zu leicht verdrängt dieser Druck die Beschäftigung mit den Grundfragen: Welchen Fortschritt, welchen Lebensstandard wollen wir? Und welchen Preis sind wir bereit, dafür zu zahlen? Offensichtlich sollten wir vorsichtiger mit dem Glauben an die Beherrschbarkeit sein und Risiko und Nutzen freier von eigenen Interessen abwägen. Wenn uns die Katastrophe dazu brächte, diesen Fragen nachzugehen, wenn Wissenschaftler, Unternehmer, Politiker, wir alle tatsächlich aus dieser unfassbaren Tragödie lernen würden, liebe Mitmenschen in Japan, dann wäre Ihr Leid wenigstens nicht ganz sinnlos gewesen!
Mit freundlichen Grüßen
die Redaktion der NEUEN STADT

Unser Brief wendet sich
an die 127 Millionen Einwohner Japans. Starke Erd- und Seebeben haben am 11. März Tausende Todesopfer gekostet und Hunderttausende obdachlos gemacht. Danach verbreitete sich Angst vor radioaktiver Strahlung aus defekten Atomkraftwerken.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2011)
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