15. April 2011

Halt geben im letzten Abenteuer

Von nst_xy

Dr. Monika Windsor wollte die anstrengende Arbeit in der Klinik nicht bis ins Rentenalter leisten müssen. Seit zwölf Jahren begleitet sie Schwerstkranke zuhause in ihrer letzten Lebensphase.

Die Ärztin muss warten. Herr I., 72, will erst frühstücken. Der weitgereiste Jurist sitzt in seiner großen Wohnung im Rollstuhl am Küchentisch und kann sich kaum noch bewegen. Langsam, mit viel Mühe, führt er die Kaffeetasse an die Lippen; seine Hand zittert, als er ebenso angestrengt nach dem Butterbrot greift. Geduldig wischt ihm Dr. Monika Windsor, 63, die herablaufende Spucke vom Kinn.

Hin und wieder gibt Herr I. unartikulierte Laute von sich. Dann reicht ihm die Ärztin Zettel und Stift, und er bringt mit krakeliger Schrift zu Papier, was er sagen will: „Nicht noch mehr Medikamente!“ Weil er schwerhörig ist, hat ihm zuvor auch die Frau Doktor ihre Frage aufgeschrieben: „Spezielle Pflaster können unkontrollierten Speichelfluss mindern. Möchten Sie die haben?“

Herr I. hat Amyothrophe Lateralsklerose, eine fortschreitende Lähmungserkrankung. Sie schränkt seine Fähigkeiten immer mehr ein: Drei Pflegekräfte geben sich in seiner Berliner Wohnung die Klinke in die Hand, zusätzlich kümmert sich ein Nachbar aufopferungsvoll um ihn. “Die Menschen, die ich begleite, sind in der Endphase ihres Lebens“, erklärt Monika Windsor und setzt Herrn S. vorsichtig die Brille wieder auf, die sie gerade geputzt hat. „Die verbleibende Zeit will ich ihnen erträglicher machen, die Qualen möglichst gering halten.“

Seit sieben Jahren arbeitet die ursprüngliche Anästhesistin als „HomeCare-Ärztin“: Dank dieser Betreuung können Menschen ihre letzte Lebensstrecke zuhause verbringen, in der gewohnten Umgebung.

Seit 2007 haben in Deutschland Patienten, bei denen keine Chance auf Heilung mehr besteht, Anspruch auf „spezialisierte ambulante Palliativversorgung“ (SAPV). In Berlin gibt es diese Betreuung für Tumorpatienten im Endstadium schon seit den neunziger Jahren; seit Juli 2010 auch für Menschen mit anderen schnell fortschreitenden tödlichen Erkrankungen.

Krankenhäuser, Hausärzte, Pflege- und Sozialdienste vermitteln die Patienten an SAPV-Ärzte und spezialisierte Pflegedienste. Manche sind nach ungezählten Arztbesuchen und Klinikaufenthalten eher skeptisch. „Gestern hatte ich so jemanden. Er wollte mich zunächst gar nicht sehen.“ Monika Windsor muss sich das Vertrauen erst erobern. Sie setzt Medikamente ein, um die Patienten schmerzfrei zu halten, verschreibt zur Linderung Physiotherapie oder schlägt Freizeitbeschäftigungen vor, damit ihre Gedanken nicht nur um die Krankheit kreisen. „Ich hab ihm gesagt: Sie sind die Hauptperson, wir machen das so, wie Sie wollen. Und als ich ihm beim Abschied Mut gemacht habe nach dem Motto ‚wir halten zusammen’, fragte er plötzlich: Wann kommen Sie wieder?“

Die Bedürfnisse von Patienten im Endstadium ihrer Krankheit sind sehr unterschiedlich: Einige sind extrem genügsam und wollen nur Tee, andere setzen alles dran, um alle Therapiemöglichkeiten auszuschöpfen. Soweit sie es medizinisch vertreten kann, setzt Monika Windsor die Wünsche um: „Eine Frau Mitte 40, hübsch, mit Löck- chen, hatte eine ganz üble Lunge. Sie flehte mich an, doch etwas zu tun! Es hatte eigentlich keinen Zweck mehr. Aber ich gab ihr eine Blutkonserve, um die Sauerstoffversorgung zu verbessern, und ein Antibiotikum gegen Entzündungen.” Die Dame starb wenige Tage darauf. Vergebliche Liebesmüh, könnte man meinen. Doch ein Jahr später trifft Monika Windsor den Mann dieser Frau wieder. „Da sagt der: ,Diese vier Tage, die Sie gekommen sind, die waren noch ganz wichtig!’ Mein kurzer Einsatz hatte der Frau offenbar Halt gegeben: Da ist jemand, der sie nicht aufgibt.”

Einige Patienten begleitet die HomeCare-Ärztin nur wenige Tage, andere über etliche Monate. Bei manchen Wünschen konfrontiert sie die Kranken ganz direkt mit der Wahrheit: „Ich sage zum Beispiel, jetzt noch eine Chemotherapie, das würden Sie überhaupt nicht aushalten.” Weil sie Vertrauen haben, nehmen Patienten und Angehörige den Rat an.

Der Lebenswille und die Überlebensfähigkeit des Menschen sind das, was Monika Windsor bei ihrer Arbeit besonders nachdenklich machen: „Medizinisch hab ich manchmal keine Erklärung, (3) warum diese Leute nicht längst dsor ( gestorben sind: Obwohl sie schon . iWn eine ganze Woche keinen einzigen Tropfen mehr getrunken haben zum Beispiel. Ein Hinweis, dass die Seele unsterblich ist? Oder zumindest stärker als der Körper?”

Die Ärztin beobachtet: Wer nicht annehmen kann, dass sein Leben zu Ende geht, wer nicht mit sich und seinen Angehörigen im Reinen ist, tut sich mit dem Sterben schwer.

So wie die demente Seniorin, die ihren Sohn dreißig Jahre nicht mehr gesehen hat, weil sie sich mit ihm verkracht hatte. Sie ist erst gestorben, nachdem der Sohn sie endlich besuchte. „Da frag ich mich, was sind das für unsichtbare Fäden, die uns so eng miteinander verbinden?”

Monika Windsor findet in ihrer jetzigen Aufgabe mehr Erfüllung als früher beim Einleiten der Narkosen für die OPs:

„Bei dieser Arbeit hab ich mit dem ganzen Menschen zu tun. Das hat mich angezogen. Hier kann ich mir Zeit nehmen und in der Begleitung nicht nur das Körperliche, sondern auch Psyche, Seele und das soziale Umfeld berücksichtigen.”

Bei ihren Hausbesuchen erfragt sie behutsam, was die Patienten nach dem Tod erwarten. „Leute glauben, sie fahren später als Energie durch den Weltraum oder treffen sich ganz hinten im Garten an der schönsten Kaffeetafel! Wichtig ist das Vertrauen, dass da noch etwas kommt und dass es etwas Schönes ist.” Manchmal erzählt Monika Windsor von ihrem Glauben an Gott, der jeden Menschen liebt und im Tod mit offenen Armen empfängt. „Aber ich sage nicht, sie sollen das auch glauben.”

„Wenn man das Sterben überhaupt mit etwas vergleichen kann, dann mit der Geburt”, sagt Monika Windsor. „Das Kind im Mutterleib weiß nicht, was ihm nach der Geburt blüht. Aber es hört schon etwas, wenn die Mutter Gitarre spielt, oder sieht einen Lichtschein, wenn sie abends einen Krimi liest.

Und so können wir hier auch schon einen Schimmer erahnen von dem, was uns erwartet, wenn wir die Erde verlassen.”

Die Gesellschaft vermittele, dass die Menschen nur wertvoll sind, wenn sie etwas leisten. „Aber wenn du wie meine Patienten einfach nur da bist und Schmerzen hast oder nur mit Rollator weiterkommst, wird ihnen eingeredet, du bist nur eine Last. Dann fühlen sie sich auch so.” Monika Windsor will ihnen etwas anderes vrüberbringen: „Manchmal sage ich, Sie können sich verbünden mit allen Kranken der Welt, und es ist überhaupt nicht sinnlos, was Sie leben.” Sie schlägt ihnen vor, die Schmerzen für ein Ziel einzusetzen, symbolisch für etwas einzuzahlen: Für ihre Verwandten, etwas, das ihnen Sorge macht, oder den Frieden. „Da hat mir noch nie jemand gesagt, also Sie reden ja einen Quatsch! Denn die Menschen haben Sehnsucht danach, dass ihr Leiden einen Sinn hat.”

Manche Schicksale gehen Monika Windsor sehr nahe, andere sind bald wieder vergessen. „Das ist auch gut so, sonst könnte man es gar nicht aushalten.” Wenn sie durch Berlin fährt, bekommen manche Häuser ein Gesicht: „Dann denke ich, ach, da lebte diese und dort jener. Das sind fast immer positive Erinnerungen, weil starke Beziehungen gewachsen sind, ganz existenziell! Selbst schwierige Charaktere, die mich auf die Palme gebracht haben: Wenn sie gegangen sind, bleibt eine Leere. Man hat sie doch lieb gewonnen.” Monika Windsor scheint, als hätte sie mit jedem ein großes Abenteuer bestanden.
Clemens Behr

Weitere Informationen: www.homecareberlin.de, www.palliative.ch, www.hospiz.at

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2011)
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