25. Oktober 2011

An Recep Tayyip Erdoğan, Minsterpräsident der Türkei

Von nst_xy

Finger weg von der Lunte!

Sehr geehrter Herr Minsterpräsident,
mit Sorge beobachten wir die Entwicklung der türkisch-israelischen Beziehungen in der letzten Zeit.

Ihr Land nimmt eine einzigartige Stellung zwischen zwei Kontinenten und Kulturräumen ein: Es verbindet Europa und Asien, ist Schnittstelle zwischen der christlich-abendländischen Kultur und der arabischislamischen Welt. Wir beobachten, dass sich die Türkei derzeit in beide Richtungen ausstreckt, und wir halten das für gut und richtig.

Zum einen strebt die Türkei die volle Mitgliedschaft in der Europäischen Union an. Dieses Ziel bringt für Sie, Herr Ministerpräsident, große Spannungen mit sich: In und unter den Mitgliedsstaaten wird der mögliche Beitritt der Türkei teilweise heftig diskutiert. Auch in Ihrem eigenen Land ist der Weg in Richtung EU umstritten. Viele Ihrer Landsleute meinen, dass der Preis zu hoch ist. Dennoch bringen Sie diesen Prozess voran und haben in vielen Bereichen Reformen begonnen oder durchgesetzt. Selbst vor der nicht ganz ungefährlichen Machtbeschränkung Ihres Militärs sind Sie nicht zurückgeschreckt. Und wenn – worauf vieles hindeutet – das vor vierzig Jahren geschlossene Seminar des Ökumenischen Patriarchats in Halki wieder eröffnet werden könnte, wäre das ein erfreuliches Signal für einen neuen Umgang mit religiösen Minderheiten in Ihrem Land. Wie auch immer der Prozess der Annäherung an Europa ausgeht: Ihr Land hat schon jetzt viel davon profitiert.

Auf der anderen Seite wollen Sie auch in der arabischen Welt stärker mitreden und Gehör finden. Nach einer zunächst etwas zögerlichen Haltung sind Sie und Ihr Land zum Bezugspunkt für die Staaten des sogenannten arabischen Frühlings geworden.

Dem Vorwurf, Sie wollten alte osmanische Vormachtsträume verwirklichen, schließen wir uns nicht an.

Jene arabischen Staaten, die sich von alten Herrschaftsstrukturen befreit haben und auf den Weg zu echten Demokratien machen wollen, brauchen Vorbilder – und zwar aus ihrem eigenen kulturellen Kontext. Trotz allem, was in Ihrem Land auch noch der Verbesserung und Entwicklung bedarf, sollten Sie den Aufbruch in der arabischen Welt unterstützen und den jungen Demokratien nach Kräften beistehen.

Ihr Land, Herr Ministerpräsident, hat eine historische Berufung zur Brückenfunktion.

Uns freut, dass Sie sich nach beiden Seiten ausrichten. In dieser Funktion tragen Sie jedoch auch besondere Verantwortung.

Deshalb fordern wir Sie inständig auf, Ihre Beziehungen zur arabischen Welt nicht mit verbaler oder realer Gewalt gegen Israel zu erkaufen. Denn Israel ist selbst ein Brückenland: verortet in der arabischen Welt und Wurzelstock der jüdisch-christlichen Kultur.

Ob das gewaltsame Stoppen des Gaza-Hilfskonvois im Mai 2010 durch Israel angemessen war, können wir nicht beurteilen. Für die Tötung türkischer Staatsbürger auf einem der Schiffe wäre eine Entschuldigung der israelischen Regierung angebracht gewesen. Dass Sie jedoch Anfang September den israelischen Botschafter ausgewiesen haben und nun damit drohen, einen nächsten Hilfskonvoi von türkischen Kriegsschiffen begleiten zu lassen, sind unnötige und gefährliche außenpolitische Entgleisungen.

Israel und Palästina sind in jeder Hinsicht voller Sprengstoff. Lassen Sie um Himmels willen die Finger von der Lunte!

Mit freundlichen Grüßen,
Clemens Behr
mit der ganzen Redaktion der NEUEN STADT

Unser Offener Brief wendet sich an Recep Tayyip Erdoğan, den Minsterpräsidenten der Türkei und Vorsitzenden der Regierungspartei AKP.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Oktober 2011)
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