23. Juni 2012

Was haben christliche Bewegungen und Gemeinschaften Europa heute zu sagen und zu geben?

Von nst_xy

Mitten in der Welt – Wir sprachen mit Gérard Testard über seine Erfahrungen. Der Franzose ist Leiter der Bewegung „Fondacio“ und seit 2005 im internationalen Leitungskomitee von „Miteinander für Europa“.

Herr Testard, was bedeutet „Miteinander für Europa“ für Sie?

Testard: Als ich zu dieser Initiative stieß, war ich verzaubert von der Tatsache, dass Christen nicht innerhalb der Kirchen bleiben, sondern sich den aktuellen Herausforderungen der Gesellschaft stellen. Ich bin davon überzeugt, dass das der Platz der Christen ist: in der Welt. Und „Miteinander für Europa“ ist ein christliches Abenteuer in der Welt.

Die „Kultur der Gemeinschaft“ unter uns ist eine Kultur des Lebens für den anderen. Und das ist eine Erfahrung, die wir innerhalb der Gemeinschaften machen, die aber auch zwischen den Gemeinschaften gilt, auch über Konfessionen und Kulturen hinweg. So ist „Miteinander für Europa“ eine prophetische Erfahrung für uns alle – für die Christen und für Europa.

Ich bin überzeugt, dass der Prozess unter uns etwas mit dem europäischen Prozess zu tun hat. Europa wurde von Christen ins Leben gerufen. Und Robert Schuman sagte einmal, er hätte das alles nicht getan, wenn er nicht an die christliche Basis Europas geglaubt hätte.

Der europäische Prozess gründet auf der deutsch-französischen Versöhnung, der Montanunion, also auf kulturellen und wirtschaftlichen Abkommen und auf einigen institutionellen Gesetzen. Diese drei Elemente machen auch heute noch den europäischen Prozess aus. „Miteinander für Europa“ kann hier – ohne sich mit dem politischen Prozess zu vermischen – einen Beitrag geben durch seine Erfahrung von Einheit in Vielfalt. Und das ist ein sehr wichtiger Beitrag für den Aufbau und die Stabilität Europas heute.

Außerdem ist „Miteinander für Europa“ eine hoffnungsvolle Vision. Die so verschiedenen und doch geeinten Bewegungen zeigen einen weiten Horizont auf: in der Geschichte verwurzelt sein, den Blick in die Zukunft richten und sich mit Entschiedenheit einsetzen.

Seit wann sind Sie bei diesem Netzwerk dabei?

Testard: Seit 2004, und seit 2005 gehöre ich zum internationalen Leitungskomitee. Seitdem hat es mich nicht mehr losgelassen. Als man mich dazu eingeladen hat, war ich sehr fasziniert und fühlte mich nicht auf der Höhe der Sache. Mit der Zeit bin ich hineingewachsen, habe getan, was ich konnte, meinen Glauben und meine Leidenschaft eingesetzt. Ich versuche beizutragen, damit auch Frankreich als wichtiges Land Europas in diesem Prozess durch die Bewegungen vertreten ist. Und ich denke, dass sich nach und nach Vertrauen in die Bewegungen und in uns, in Christen als europäische Bürger, entwickeln wird.

Die Bewegungen sind sehr verschieden, was hält sie zusammen? Gibt es ein Geheimnis?

Testard: Die Bewegungen sind verschieden, weil sie verschiedene Charismen haben. Gott schickt ja immer neue Gaben, um auf die Bedürfnisse der Zeit zu antworten. Einige setzen sich für Familien ein, andere für Behinderte, und wieder andere für die Jugend. Und das ist gut so; es gehört zu den ständigen Verheißungen in der Kirche.

„Miteinander für Europa“ stützt sich ja auf die Bewegungen selbst und das erste „Arbeitsfeld“ des Miteinanders sind sie selbst. Sich gegenseitig wahrnehmen und einander teilhaben lassen an dem Eigenen, hat eine Wirkung, die man vielleicht folgendermaßen beschreiben kann: Wenn man viele kleine Kerzen entzündet und sie in weitem Umkreis verteilt, sieht man das zwar; aber wenn man die Kerzen zusammenbringt, staunt man über das helle Licht, das sie machen.

Wir wollen ein solches Licht sein in Europa: Die Tatsache, dass wir zusammen sind, um unsere Stimme zu erheben, gibt unserem Wort Kraft. Die Verheißung liegt in der Gemeinschaft, in der Einheit unter uns und in der Tatsache, dass wir zusammen sind, um zu sagen: Wir glauben, dass Christus in dieser Welt wirkt, und wenn wir seinen Willen tun wollen, müssen wir unseren Platz in der Gesellschaft einnehmen.

Gemeinschaft ist etwas Anspruchsvolles; sie aufzubauen, braucht Zeit; sie ist zerbrechlich. Aber in der Gemeinschaft unter uns liegt eine Kraft, die mehr ist, als eine organisatorische Struktur zu schaffen. Es lohnt sich, dafür etwas zu investieren. Das ist, wie Chiara Lubich gesagt hat, eine zweite Berufung, die es zu leben gilt. Meine erste Berufung ist meine Bewegung, die zweite ist zusammenzuarbeiten in der Gemeinschaft der Bewegungen, weil wir einander brauchen. Und wir schaffen es nicht allein!

Gab es Krisen auf dem Weg des Miteinanders?

Testard: Ich selbst habe keine erlebt. Es gibt Momente, wo man weniger klar sieht, wie es weiter geht zwischen zwei Etappen. Aber meiner Beobachtung nach gab es keine Krise, wo die Einheit infrage stand oder dass jemand in eine andere Richtung gehen wollte als die anderen. Es herrscht großer Respekt untereinander, und wir schaffen es immer, unsere Meinungen zusammenzuführen.

Das gibt mir viel Hoffnung, denn ich erlebe auch, dass es wirklich eine große Herausforderung ist, mit verschiedenen Kulturen und Sprachen zu arbeiten. Und damit das gelingt, leistet wirklich jede Bewegung ihren Teil. Aber besonders wertvoll ist hier das Charisma der Einheit von Chiara Lubich. Es trägt entscheidend dazu bei, dass „Miteinander für Europa“ seiner Identität, seinem Ursprungsgedanken treu bleibt.

Hat sich etwas verändert, seit Chiara Lubich nicht mehr dabei ist? Was war ihr besonderer Beitrag?

Testard: Am Anfang erschien mir das „Bündnis der gegenseitigen Liebe“ fremd und ungewohnt, auch als Begriff. Aber nach und nach habe ich erfahren, welch tiefe Bedeutung es hat. Und ich denke, dass es in besonderer Weise aus dem Charisma von Chiara Lubich kommt.

Persönlich habe ich sie nie bei einem Treffen von „Miteinander für Europa“ erlebt, weil sie schon krank war, als ich dazu gestoßen bin. Aber ich bin ihr dann einmal persönlich begegnet, und das war ein wichtiger Moment für mich. Ich erlebe, dass Chiara Lubich auch jetzt immer sehr präsent ist in allen Begegnungen des Miteinanders.

Die Stärke der Bewegungen liegt im spirituellen Bereich, im Glauben, im Gebet. Haben sie auch Einfluss auf die Gesellschaft?

Testard: Die Stärke der Bewegungen ist sicher ihr geistliches Leben: Sie leben aus ihrem Glauben an Christus, haben Erfahrung im geistlichen Leben und im gemeinschaftlichen Leben. Aber das alles ist nicht zu trennen vom Engagement in der Welt!

Ja, die Bewegungen haben Einfluss auf die Gesellschaft, die einen im interreligiösen Dialog, andere im Einsatz für Arme, wieder andere mit dem für Behinderte. In einigen Ländern haben sie sich für Gesetzesänderungen stark gemacht und diese auch durchgesetzt. Gerade auf dem Rückflug von Brüssel sprachen wir noch mit Jacques Barrot darüber, wie sehr „ATD quart monde“ 1) die französische Gesetzgebung beeinflusst hat. Wenn sie Position beziehen, können die Bewegungen viel erreichen. Und ich hoffe, dass sich dieser Einfluss noch weiter entwickeln wird. Das bedeutet ja nicht, dass Europa ganz christlich wird, sondern als Christen anwesend zu sein und den Humanismus sichtbar zu machen, der vom Evangelium kommt. Wir müssen Einfluss nehmen, wo wir sind, weil wir glauben, dass die christlichen Werte ein „Mehr“ bedeuten und ein Gewinn für alle sind.

Was haben die Bewegungen den Politikern in Europa heute zu sagen?

Testard: Europa darf nicht auf sich selbst beschränkt bleiben. Gemeinschaften, die in Geschwisterlichkeit verbunden sind, können die Welt dazu aufrufen, geschwisterlicher zu leben.

Europa darf nicht innerhalb seiner Grenzen bleiben und seine Grenzen noch verhärten. Ganz im Gegenteil: Es muss offen sein für die Nachbarkontinente, besonders für Afrika, und kann dabei etwas geben, aber auch viel empfangen. Diese Offenheit und diese Solidarität sind wichtig.

Das haben wir zu sagen. Und wegen unserer Erfahrung sind wir berechtigt, das zu sagen. Wir können von einem Sammlungsprozess erzählen, vom Dialog, vom Austausch der Gaben. In der europäischen Verfassung werden in Artikel 17 die Kirchen und die philosophischen Strömungen eingeladen, mit den Institutionen im Dialog zu bleiben. Und das wollen wir tun. Die Seele Europas wieder zu beleben, heißt, diese Werte aufleuchten zu lassen.

Christen streben nach der weltweiten Geschwisterlichkeit, nach Solidarität. Und das müssen wir immer und immer wieder sagen, weil angesichts der großen Herausforderungen durch die wirtschaftlichen Probleme und die steigenden nationalistischen Tendenzen Europa heute Gefahr läuft, auseinanderzudriften. Unsere Erfahrung – auch wenn sie begrenzt ist –  hat in diesem Kontext ihren Wert.
Gabi Ballweg, Emmanuelle Blondeau

1) Die Bewegung „ATD Vierte Welt“ ist eine internationale Nichtregierungsorganisation, die sich für die Menschenrechte, den Frieden und die Anerkennung der Würde jedes Menschen einsetzt.

Gérard Testard,
Frankreich, Gründer der Bewegung „Fondacio“, einer überkonfessionellen Bewegung, die im Geiste der Charismatischen Erneuerung Hoffnung und Geschwisterlichkeit in die Gesellschaft bringen möchte. Testard ist seit 2004 bei der Initiative „Miteinander für Europa“ dabei und gehört seit 2005 zum internationalen Leitungskomitee.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2012)
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