15. Mai 2013

Im Unvollkommenen das Vollkommene

Von nst1

Im zweiten Teil ihrer Ausführungen zur Schönheit 1) geht Katharina Wild besonders auf das Theater ein: Schönheit als „Ergebnis“ eines gemeinschaftlichen Prozesses, der heilmachende Kräfte hat.

Seit Jahrtausenden sind Menschen von der Schönheit fasziniert. Immer wieder wurde sie in engen Zusammenhang mit der Wahrheit und der Idee des Guten gebracht. Sie stand im Kontext von Eigenschaften wie Ordnung, Ebenmaß und Bestimmtheit. Neben den Versuchen, objektive Kriterien zu finden, anhand derer Schönheit sich messen lässt, gibt es aber auch Strömungen, die dem subjektiven Empfinden, dem Geschmacksurteil größere Bedeutung beimessen. Mit der Moderne entstanden überdies neue Schönheitskonzepte, die beispielsweise den Charakter, das innere Wesen eines Gegenstands in den Mittelpunkt rückten. Auch darf der Missbrauch des Schönheitsbegriffs durch totalitäre Ideologien oder seine Abnutzung in der postindustriellen Konsumgesellschaft nicht außer Acht gelassen werden, wenn von Schönheit die Rede ist.

Schönheit enthält Hässliches

Einen möglichen Weg zu einem neuen, zeitgemäßen Schönheitsverständnis hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Theaterreformer Edward Gordon Craig beschritten. Für ihn, der das Theater des 20. und 21. Jahrhunderts maßgeblich beeinflusste, ist Schönheit einzig gültiger Bezugspunkt von Kunst und Leben. Auf sie ist alles ausgerichtet. Sie ist ein eigenständiges, autonomes Ereignis, dem es im Theater Raum zu schaffen gilt. Alle Theaterelemente müssen im Dienst der Schönheit stehen. Das heißt beispielsweise, dass im und durch das Spiel der Schauspieler Schönheit erfahrbar werden soll. Aber auch die Farben und Linien von Bühne, Licht und Kostümen, der Umgang mit Text, Stille und Musik, die Art der Beziehung zum Zuschauer tragen zur Übermittlung der Schönheit bei.

Dabei hat Schönheit, wie Craig sie sich vorstellt und in seiner praktischen Theaterarbeit zu aktualisieren versucht, nur mehr wenig mit den klassischen Schönheitsvorstellungen früherer Jahrhunderte zu tun. Zwar sind auch für ihn eine enge Verbindung zur Wahrheit oder Qualitäten wie Maß und Ausgewogenheit wichtig, aber Schönheit erschöpft sich für ihn keineswegs darin. In seinen Augen ist Schönheit vor allem „etwas umfassendes, sie enthält nahezu alles andere, – enthält selbst die hässlichkeit, die dann manchmal nicht mehr das ist, was wir unter hässlichkeit verstehen und enthält auch dissonanzen, aber sie enthält niemals unvollkommenheiten.“ 2)

Mit dem Gedanken, dass Schönes nicht unbedingt das Gegenteil von Hässlichem oder Schrecklichem sein muss, steht Craig nicht alleine da. Auch Rainer Maria Rilke spricht in seinen „Duineser Elegien“ beispielsweise vom Schönen als „des Schrecklichen Anfang“ 3) und in Heiner Müllers Gedicht „BILDER“ bedeutet das Schöne „das mögliche Ende der Schrecken“ 4). Während sich bei Rilke und Müller das Schreckliche in die Form des Schönen hüllt, ist es bei Craig die Schönheit, die sich zuweilen den Anschein des Schrecklichen gibt. Allerdings nur für diejenigen, die nicht die Kraft aufbringen, über diesen Anschein hinauszugehen. Ob etwas hässlich oder schrecklich oder schön wirkt, könne nämlich jeder selbst beeinflussen. Er müsse nur alles mit den rechten Augen betrachten, den Augen der Liebe, wie Craig erklärt: „Der ganze unterschied liegt in der bereitschaft, die welt zu lieben. Wer die erde liebt, sieht überall schönheit: wie ein gott verwandelt er durch sein wissen unvollkommenes in vollkommenes. Er kann die lahmen und die kranken heilen, den schwachen mut einflößen, und er kann sogar lernen, die blinden sehend zu machen.“5)

Liebe lässt Schönheit erkennen

Die Liebe verleiht dem Menschen die göttliche Fähigkeit, in allem Unvollkommenen die Möglichkeit seiner Vollkommenheit zu sehen und Unvollständiges zu vervollständigen. Sie lässt ihn überall Schönheit entdecken und befähigt ihn, diese Schönheit weiterzugeben. Der Künstler als ein liebender, sehender Mensch erlangt stärkende, heilende und erlösende Macht, weil er andere den Blick der Liebe lehren kann. Das vielleicht bruchstückhafte Schöne an Gegenständen und Menschen ist dann ein Verweis auf die vollkommene Schönheit, die für Craig im Jenseits verortet ist. In der Unvollkommenheit des Diesseits tritt diese Schönheit häufig in den Hintergrund, erregt nicht Bewunderung sondern Schrecken. Wenn man jedoch die eigenen Sinne in rechter Weise einsetzt, kann man an allen Dingen vor allem das Schöne hervortreten lassen.

Dies setzt aber voraus, dass alle, die mit einem Kunstwerk in Berührung kommen, die gleiche Grundhaltung der Liebe einnehmen wie der Künstler. Und jeder am Kunstgeschehen Beteiligte muss sich als Teil eines großen Ganzen begreifen. Im Theater, das von Natur aus eine gemeinschaftliche Kunst ist, wird dies besonders deutlich. Schönes kann nur dann entstehen, wenn der Regisseur durchlässig für die wahre Schönheit mit all ihren Abgründen und Untiefen ist; wenn die Schauspieler, Bühnen- und Kostümbildner, Bühnenarbeiter, Licht- und Tontechniker den Ideen des Regisseurs bedingungslos vertrauen und wenn die Zuschauer sich dem Bühnengeschehen ganz ausliefern.

Zweifellos trägt ein solches Modell stark hierarchische Züge, die sich leicht ins Diktatorische wenden können. Deshalb ist es unabdingbar, dass alle gemeinsam auf nichts anderes als die Schönheit ausgerichtet sind. Erst dann ist es möglich, sich voll und ganz auf den künstlerischen Prozess einzulassen, etwas zu riskieren, sich selbst auszusetzen und zu verausgaben – und gemeinsam die ganz- und heilmachende Kraft der Schönheit zu erfahren.
Katharina Wild

1) siehe auch Neue Stadt 4/2013, S. 21f
2) Craig, Edward Gordon: über die kunst des theaters, Berlin 1969, S.39f
3) Rilke, Rainer Maria: Duineser Elegien, in: ders.: Gedichte, Stuttgart 1997, S.185
4) Müller, Heiner: BILDER, in: ders.: Geschichten aus der Produktion 2, Berlin 1996, S.7
5) vgl. Craig, S. 186

Katharina Wild,
freie Lektorin und Autorin, beschäftigt sich seit langem mit der Rolle der Schönheit in der zeitgenössischen Kunst, besonders im Theater. Die Theater-, Film- und Fernsehwissenschaftlerin promovierte 2008 zum Thema „Schönheit. Die Schauspieltheorie Edward Gordon Craigs“.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2013)
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