20. September 2013

“Es bräuchte mehr Streit.”

Von nst1

Am 22. September ist Bundestagswahl in Deutschland, am 29. Nationalratswahl in Österreich. Aber immer weniger Bürger gehen wählen. Ist die Demokratie in der Krise? Fragen an den politischen Philosophen Michael Reder.

Haben die Menschen kein Interesse mehr an Politik?
REDER: Das glaube ich nicht. Aber viele haben das Vertrauen in traditionelle Institutionen der Demokratie verloren. Sie haben den Eindruck, dass die Politiker Probleme nicht angemessen angehen, verstrickt sind in Lobby-Gruppen und eigene Interessen vertreten. Deswegen überlegen sich viele, ob sie überhaupt zur Wahl gehen sollen.

Die Parteiprogramme unterscheiden sich wenig. Haben die Wähler überhaupt noch eine echte Wahl?
REDER: Aus meiner Sicht ist es ein Problem der gegenwärtigen Demokratie, dass die Parteien im Bemühen, Stimmen zu gewinnen, zu sehr in die Mitte drängen und zu wenig klare Positionen beziehen. Begriffe wie soziale Gerechtigkeit oder Nachhaltigkeit finden sich mittlerweile in allen Parteiprogrammen, und es ist nicht einfach, Unterschiede herauszufinden.
Unterschiede sind jedoch in der Demokratie wichtig für die Identifikation: dass die Bürger sagen können, ja, das ist die Position, die ich vertreten haben möchte. Hier bräuchte es mehr Streit. Die Parteien vermeiden offenen Streit untereinander. In vielen Fragen wäre jedoch eine offene und klar akzentuierte Debatte hilfreich: Wie geht es in Europa weiter? Sollen wir in Zukunft unser Militär für Menschenrechtsschutz im Ausland einsetzen? Wie sollen wir Nachhaltigkeit politisch umsetzen? Streit bedeutet nicht, dass wir den politischen Gegner nicht akzeptieren, aber dass wir die Unterschiede deutlich machen. Denn nur so kann eine wirkliche Auseinandersetzung über die Kernfragen unserer Demokratie stattfinden.

Die Entscheidungen der EU scheinen zuweilen die Souveränität ihrer Mitgliedsländer zu beschneiden. Unterhöhlt das die Demokratie?
REDER: Das ist eine der ganz großen Herausforderungen: dass wir heute Problemzusammenhänge mit überstaatlichem Charakter haben. Natürlich haben Bürger in Demokratien Angst, Souveränitätsrechte an übernationale Institutionen abzugeben. Es wäre auch falsch, das blind zu tun. Aber wir sollten darüber nachdenken, wie wir demokratisch legitimierte Verfahren auf europäischer und globaler Ebene gestalten wollen, wie die Bürger also beteiligt werden können.
Der Philosoph Otfried Höffe schlägt seit zehn Jahren vor, eine föderale Weltrepublik zu konstituieren. Für Probleme mit weltweitem Charakter will er demokratische Institutionen auf globaler Ebene etablieren: Einen Welt-Tag, einen Welt-Rat, analog zu unserem bundesdeutschen Politiksystem. Er hat damit viel Kritik geerntet, teilweise sicher auch berechtigt. Seine Ideen sind aber wichtig, denn die überstaatlichen Probleme bleiben, und dafür brauchen wir Lösungen. Und auch hierfür ist die Demokratie der beste Weg.

Viele Bürger meinen, dass nicht die Regierungen entscheiden, sondern die Märkte, Großbanken, Rating-Agenturen und Geheimdienste. Wie kann die Politik wieder mehr das Ruder übernehmen – oder sehen Sie diese Notwendigkeit nicht?
REDER: Doch, sehr deutlich sogar. Und die Notwendigkeit ist zum einen dadurch bedingt, dass unsere Welt enorm komplex geworden ist. Zusammenhänge im Finanzsektor oder im Wirtschaftsbereich sind oft auch für Politiker schwer zu durchschauen. Sie müssen also Experten einbinden, um zu verstehen, um was es wirklich geht. Mit dem Weltklimarat haben wir bereits einen Zusammenschluss von mehreren tausend Wissenschaftlern, die regelmäßig versuchen, die Weltpolitik zu beraten. Ich möchte nicht, dass die Wissenschaftler entscheiden! Aber die Politiker müssen informiert sein, um gute Entscheidungen zu treffen.
Das Zweite ist: Die Politik sollte wieder mutiger sein und sich mehr Entscheidungshoheit zurückerobern; in der Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht nur der Eigendynamik der Märkte hinterher hecheln, sondern sich dezidiert für ein bestimmtes Ideal der sozialen Gerechtigkeit einsetzen und dann entsprechende Regulierungen auf den Weg bringen: damit die Bürger wieder das Gefühl haben, die Politik gestaltet den politischen Raum, in dem sie leben.

In den letzten Jahren haben „Wutbürger“ und Bewegungen wie „Occupy“ Furore gemacht. Wie bewerten Sie die Zunahme von Protestgruppen?
REDER: Auf der einen Seite ist es für die Demokratie immer gut, wenn Bürger sich engagieren und öffentlich ihre Meinung kundtun, auch wenn sie gegen etwas gerichtet ist. Die Politik sollte die Proteste nicht abtun, sondern ernst nehmen, konstruktiv weiterdenken und die Gruppen einbinden.
Auf der anderen Seite zeigen uns soziologische Studien, dass oft nur eine ganz bestimmte Gruppe protestiert. In einem polemischen Artikel stand, Stuttgart 21 sei eine Art Spielwiese für konservative Mittfünfziger, die nur einen Teil der Bürgerschaft abbilden. Man muss genau hinschauen, ob die These zutrifft, aber sie sollte uns nachdenklich machen. Oft haben diejenigen, die am schlechtesten gestellt sind – beispielsweise Hartz IV-Empfänger – die kleinste Lobby und werden am wenigsten gehört. Wir können nicht nur auf die hören, die am lautesten rufen und es sich wirtschaftlich leisten können zu protestieren, sondern müssen immer das Gemeinwohl als Ganzes im Blick haben.

Gerade ärmere, wenig gebildete Leute gehen kaum wählen. Sehen Sie einen Weg, sie politisch mehr zu beteiligen?
REDER: Diese „soziale Lücke“ ist eine der großen Herausforderungen neben der Internationalisierung der Demokratie und der Technokratiegefahr: dass sich nämlich die Bürger und Bürgerinnen, die sozial am schlechtesten gestellt sind, die geringsten Einkommen haben, an Protesten wie an Wahlen am wenigsten beteiligen. Damit sind gerade ihre Interessen am wenigsten vertreten. Hier sind alle Parteien gefragt, vor allem in der Bildungspolitik: Kinder und Jugendliche – egal, aus welchem Kontext sie kommen und wie ihre wirtschaftliche Ausgangslage ist – müssen wissen, dass die Teilnahme an demokratischen Prozessen die zentrale Chance ist, mit der sie ihr gesellschaftliches Leben mitgestalten können.

Behindern die modernen sozialen Medien demokratisches Verhalten oder fördern sie es eher?
REDER: Die Formen der Beteiligung haben sich immer wieder gewandelt. Wir sollten nüchtern anschauen, welche Vor- und Nachteile in diesen Medien liegen. Meinen Studierenden ist die Beteiligung in Parteien oder Vereinen fremd, weil sie nicht mehr ihrer Art der Kommunikation entspricht. Aber sie diskutieren über Facebook oder Twitter viele politische Fragen. Das sind keine langen, ausgefeilten Statements, es sind kurze Kommentare, aus denen sich aber oft eine längere und auch gehaltvolle Debatte entwickelt. Das sollte man als etwas Positives sehen und versuchen, sie für demokratische Prozesse zu nutzen.

Wie sieht es mit anderen Formen der Bürgerbeteiligung aus: Wo sind Volksentscheide und Bürgerräte sinnvoll, wo nicht?
REDER: Wir sollten kreativ sein und ausprobieren, auf welchen politischen Ebenen und in welchen Formen Beteiligung funktionieren kann. Bürger- oder Volksentscheide können auf lokaler Ebene sinnvoll sein, weil das politische Thema klar umschrieben, der Wirkungsbereich klar bestimmbar ist. Hier können sie die emotionale Beteiligung, die Identifikation mit dem politischen Prozess steigern. Je komplexer allerdings die Themen, desto weniger sinnvoll sind direkte Entscheide.
Auch hier lassen sich neue Medien nutzen. Allerdings, das zeigt ein Blick auf die Piratenpartei, muss man aufpassen: Bestimmte Gruppierungen beteiligen sich laut, andere überhaupt nicht. Auch neue Partizipationsprozesse in der digitalen Welt sind nicht in sich schon gut oder demokratisch, sondern man muss erwägen, inwieweit sie dem Ideal der Beteiligung aller Rechnung tragen.

Ist die Demokratie in einer Krise? Sind wir schon in einer „postdemokratischen“ Phase?
REDER: In der Debatte über die Demokratie – und die ist, wenn wir bis zu den Griechen zurückgehen, über 2000 Jahre alt – gab es die Rede von der Krise schon immer. Die Krise ist gewissermaßen eine Kehrseite der Demokratie. Es gibt immer Gruppierungen, die mit den Entscheidungen der Mehrheit nicht einverstanden sind.
Einerseits sind viele Bürger mit den Politikern unzufrieden, andererseits haben sie großes Vertrauen in das Verfassungsgericht, das auch eine zentrale Institution unserer Demokratie ist. Insofern würde ich eher von einer Veränderung der Demokratie sprechen. „Krise“ hieße auch, dass wir etwas ganz Neues bräuchten. Ich glaube aber, die Demokratie ist nach wie vor das beste aller möglichen politischen Systeme. Auch die so genannten Postdemokraten wollen nicht die Demokratie abschaffen, sondern neu denken: Sie sagen, wir sollten den sozialen Ausschluss in der Demokratie ernst nehmen, die Märkte stärker regulieren, auf globaler Ebene demokratische Institutionen bauen. Die Postdemokraten wollen gerade die Grundidee der Demokratie, die Beteiligung aller in transparenten und legitimierten Verfahren, erneuern. In diesem Sinn würde ich mich auch als Postdemokrat bezeichnen: die Demokratie nicht aufgeben, aber an die neuen Herausforderungen anpassen.

Herzlichen Dank für das Gespräch!
Clemens Behr

Michael Reder, Jahrgang 1974, hat in München, Fribourg und Tübingen Philosophie und katholische Theologie studiert. An der Hochschule für Philosophie in München hat er den Lehrstuhl für praktische Philosophie mit Schwerpunkt Völkerverständigung inne. Reder arbeitet dort am Institut für Gesellschaftspolitik mit und leitet das Forschungs- und Studienprojekt „Globale Solidarität – Schritte zu einer neuen Weltkultur“.

Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September 2013)
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