17. September 2013

Geschwisterlich in der Politik

Von nst1

Was politisch engagierten Menschen die Spiritualität der Einheit bedeutet.

Politisch aktiv werden ist nicht das vorrangige Ziel geistlicher Gemeinschaften, auch nicht der Fokolar-Bewegung. Sie entstand vielmehr aus dem geistlichen Impuls, Gott an die erste Stelle zu setzen. Dass diese Entscheidung die entstehende Gemeinschaft dann direkt auf ihre Mitmenschen, vor allem auf die Schwächsten verwies, zeigte jedoch auch gesellschaftliche Auswirkungen: So wollte Fokolargründerin Chiara Lubich (1920 – 2008) mit ihren Gefährtinnen die sozialen Probleme der vom 2. Weltkrieg gebeutelten norditalienischen Stadt Trient lösen. Später unterstrich sie immer wieder, dass das evangeliumsgemäße Leben auch dazu führe, gesellschaftliche Strukturen und Institutionen zu gestalten.
Das sprach von Anfang an auch Politiker an, allen voran den italienischen Abgeordneten Igino Giordani. Sie waren schon in den fünfziger Jahren überzeugt, dass die Spiritualität der Einheit einen wichtigen Impuls auf politischer Ebene geben kann. Auch in den Folgejahren gab es unter den Angehörigen der Bewegung immer Menschen, die ihren besonderen Auftrag im politischen Engagement sahen. Bei einer Begegnung am 2. Mai 1996 in Neapel fragten sie Chiara Lubich, ob und wie es für Politiker unterschiedlicher Parteien möglich sei, miteinander die Geschwisterlichkeit zu leben. Die Fokolargründerin antwortete darauf, dass die Grundwerte, für die diese Politiker eintreten wollen, den Vorrang vor parteipolitischen Interessen haben müssten. Nur wenn alle daran arbeiteten, könne man das Gemeinwohl erreichen. Das war der Impuls zur Gründung des Forums „Politik und Geschwisterlichkeit“. (s. Stichwort unten)

Wie die Spiritualität der Einheit sich in ihrem politischen Engagement widerspiegelt, wollten wir beispielhaft von einigen Angehörigen der Bewegung wissen.

Sophia Kircher (19) studiert Internationale Wirtschaftswissenschaftenin Innsbruck. Als sie im Februar bei einer Veranstaltung der Jungen Volkspartei hörte, dass sie Wahlkampfhelfer für die Landtagswahl im Frühjahr 2013 suchten, meldete sie sich spontan; auch weil sie nicht nur kritisieren, sondern konkret etwas tun wollte. Weil der Kontakt zu den Menschen und die interessanten Veranstaltungen der Studentin sehr „getaugt“ haben, blieb sie dabei. Im Jugendklub Innsbruck überlegt sie sich zusammen mit anderen jungen Leuten, was sie in den Gemeinderat einbringen möchten, wie etwa die „Mission Sicherer Heimweg“1).
Alle Menschen als Teil einer einzigen Menschheitsfamilie zu sehen und deshalb jeden anzuerkennen, alle Meinungen ernst zu nehmen, mit jedem immer wieder neu zu beginnen, das sind ihr da im Moment die wichtigsten Grundhaltungen aus der Spiritualität der Bewegung. „Im Wahlkampf war das nicht immer einfach. Weil einige Helfer der finanzielle Anreiz mehr anspornte als die Inhalte, waren sie bald demotiviert. Ich hab versucht, immer mit einem Lächeln in den Tag zu gehen, die anderen zu lieben, auch wenn sie muffig waren und so die Atmosphäre unter uns zu prägen.“

Reiner Pistner (58) ist seit 17 Jahren Bürgermeister der Marktgemeinde Schöllkrippen (Unterfranken). Für ihn ist das ein Traumberuf, aber es gibt natürlich auch Unerfreuliches. Wie das vor Kurzem verlorene Bürgerbegehren um den Bau eines neuen Gemeindesaals. „Das steckst du nicht sofort weg“, erzählt er. „Danach hängst du in den Seilen und überlegst, ob du deine eigenen Ideen verwirklichen wolltest und die Leute zu wenig mit ins Boot geholt hast.“ Inzwischen kann er wieder gut auf die Gegner zugehen und das Gespräch mit ihnen führen.
Dabei schöpft der Bürgermeister aus seiner Beziehung zu Gott. „In Gesprächen und Gremien will man oft etwas durchboxen und das Gespräch fährt sich fest.“ Da merkt er, dass er sich zurücknehmen muss. „Ich halte dann meine Antenne in den Himmel, richte mich wieder auf Gott aus, stelle meine Ideen zurück und fange neu an“, beschreibt er. „Oft ändert sich dann die Atmosphäre im Raum, wird konstruktiver. Und dieses Verlieren und Zurücknehmen hilft mir auch bei aller Emotionalität, die immer wieder mitspielt.“
Reiner Pistner ist überzeugt, dass man die eigenen Stärken und Grenzen kennen muss. Vielfältigste Ideen und Meinungen zusammenzuführen und tragfähige Kompromisse zu suchen, macht ihm Freude. Auch überregional wäre er gern politisch aktiv, für die kommunalen Aufgaben bliebe ihm dann aber nicht mehr genug Zeit und Kraft.

Den Vorarlberger Andreas Bartl (50) fasziniert das Kleinräumige, weil es überschaubar ist, nicht überlastet und man die Auswirkung sofort sieht. Politik fängt für ihn bei der Familie und der Nachbarschaft an: „Welche Wahlen treffe ich dort? Wie leben wir? Wen unterstützen wir mit unserem Geld, unseren Einkäufen?“ Mit Parteipolitik hat es der Sympathisant der Grünen nicht so sehr und will sich lieber seine kritische Distanz behalten.
Dass in Italien Menschen unterschiedlicher politischer Anschauungen zusammenkommen und dabei auch die eigene Partei in den Hintergrund rücken, hat ihn sehr beeindruckt. Für ihn war das vor vier Jahren der Anstoß, die Vertreter der Sozialeinrichtungen im Leiblachtal (bei Bregenz) zu regelmäßigen Begegnungen einzuladen. Dafür hat er allen vorgeschlagen, zurückzustellen, ob jemand von der Lebenshilfe oder der Caritas ist, vielmehr steht die Frage im Vordergrund: Was kann ich für dich tun? „Die Organisation des anderen wie die eigene lieben, hat sehr viel Positives bewirkt“, freut sich Bartl über die Synergieeffekte, die sich so eröffnet haben.

Bevor Andrea Gottweis (52) in der Politik landete, hatte die Geschäftsführerin eines Textilgeschäfts sich sehr bewusst vor Gott gestellt und gefragt, was dran sei. Dann war sie auf einem eigentlich aussichtlosen Listenplatz gelandet. Trotzdem ist sie seit 1996 im burgenländischen Landtag und kandidiert nun für den Nationalrat.
In der Realpolitik geht es ihrer Erfahrung nach immer um die Kunst des Machbaren, darum, ob man Mehrheiten findet für seine Anliegen – und den richtigen Zeitpunkt. Weil die Mehrheiten meist sehr klein sind, ist es schwierig, einen Standpunkt zu finden, der von vielen mitgetragen wird. Oft wird dann gar keine Entscheidung getroffen oder nur ein Minimalkonsens gefunden, der für alle unbefriedigend ist. Und manchmal ist das Ergebnis dann auch nicht mit dem eigenen Gewissen vereinbar. „Vor Kurzem habe ich deshalb an einer Abstimmung nicht teilgenommen. Ich konnte es nicht verantworten, das mit zu beschließen.“ Für solche Entscheidungen wird sie schon auch mal angefeindet. Auch dann versucht Andrea Gottweis, nicht polemisch zu werden, den anderen nicht unter der Gürtellinie anzugreifen oder irgendwelche Meinungen über ihn zu verbreiten. „Andere machen das aber sehr wohl mit einem; und da muss man Wege finden, das nicht persönlich zu nehmen, sonst verzweifelt man.“
Als Politiker werde man oft von vorneherein als korrupt und auf sich selbst bezogen angesehen. Leider werden häufig nur die Fehler und weniger das Positive beachtet. So entstehe ein schiefes Bild. Gottweis sieht es als ihre spezielle Aufgabe, „den anderen so zu sehen und zu nehmen, wie er ist, das Positive herauszuholen und nicht das Negative in den Vordergrund zu schieben.“ Das wird durchaus wahrgenommen, und so hat sie auch viele gute Freunde in der Politik gefunden – unabhängig von der Parteizugehörigkeit.
Gabi Ballweg

1) www.jvp-innsbruck.at/mission-sicherer-heimweg

Das Forum Politik und Geschwisterlichkeit
ist eine Initiative der Fokolar-Bewegung und Teil der internationalen politischen Bewegung „Movimento politico per l’unità“, die 1996 in Italien entstand. Sie richtet sich in Italien, verschiedenen Ländern Europas, Südamerikas und Asiens an Politiker, politisch Engagierte und Interessierte, in der öffentlichen Verwaltung Tätige und Studierende, unabhängig von der jeweiligen Parteizugehörigkeit.
Gemeinsame Basis des „Forums Politik und Geschwisterlichkeit“ ist:
– der Wunsch, der Politik eine Seele zu geben, sie als Dienst am Menschen zu sehen und zu leben.
– die Überzeugung, dass jedes politische Handeln Ausdruck einer gelebten Geschwisterlichkeit sein kann, die den Frieden und die Einheit der Völker zum Ziel hat.
In Deutschland initiiert das Forum Begegnungen zur politischen Bildung, insbesondere mit und für Jugendliche und zum Thema Europa und pflegt Kontakte zu Politikern aus unterschiedlichen Ebenen. www.politik-und-geschwisterlichkeit.de
In der Schweiz treffen sich seit 1979 während der Sessionen der Eidgenössischen Räte jeden Mittwoch Politiker und Politikerinnen aus verschiedenen Fraktionen und Konfessionen zur „Besinnung unter der Bundeskuppel“. 2011 haben Mitglieder des Forums im Wallis die „Charta für Politik und Geschwisterlichkeit“ formuliert und unterzeichnet. www.politic-forum.ch

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September 2013)
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