23. Januar 2014

Der Weggefährte

Von nst1

Das Spielen mit der Sprache, sein hervorragendes Gedächtnis, sein Zugehen auf die Menschen sind vielen in Erinnerung, die ihn kannten: Bischof Klaus Hemmerle starb 64-jährig am 23. Januar vor zwanzig Jahren. In vier Interviews versuchen wir, seiner Bedeutung für das Bistum Aachen, das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, die Theologie und die Fokolar-Bewegung nachzuspüren.


VIELE ANEKDOTEN

Peter Blättler war in Aachen von 1989 bis 1996 Bischöflicher Kaplan und Sekretär von Bischof Hemmerle sowie von Bischof Mussinghoff. Heute ist er dort Regens des Priesterseminars und leitet das Bischof-Hemmerle-Haus.

Bischof Hemmerle war von 1975 bis 1994 Bischof von Aachen. Woran erinnern sich die Menschen im Bistum?
BLÄTTLER: Junge Leute kennen ihn nur aus Erzählungen oder von seinen Texten. Aber die Generation 45 plus spricht mich im Bischof-Hemmerle-Haus, dem ehemaligen Bischofshaus, häufiger auf ihn an. Dabei fällt vielen zuerst eine Anekdote ein. Anekdote will sagen: Sie haben eine persönliche Erfahrung mit ihm gemacht. Einige Anekdoten spielen rund um die Treppe im heutigen Bischof-Hemmerle-Haus, die damals vom Foyer hinaufführte in sein Arbeitszimmer. Der Bischof hat viele Gäste auf dieser Treppe zur Haustür begleitet. Und so erzählte mir mal einer von einem schwierigen Gespräch, bei dem der Bischof ihm gegenüber hart bleiben musste. Er sagte: ‚Ich war enttäuscht, als wir oben saßen, aber dann ist er mit mir die Treppe runtergegangen und hat gefragt: Sind Sie mit dem Auto? Als ich verneinte, sagte er: Jetzt trinken wir in der Küche noch einen Schnaps zusammen.’ Er fügte hinzu: ‚Das war der wichtigste Schnaps meines Lebens!’ – Vielen gab der Bischof das Gefühl, einen Augenblick lang nur für sie da zu sein: Dabei war er hoch präsent und kannte viele noch lange Zeit danach mit ihrem Namen.

Wie sah die Zusammenarbeit mit ihm aus?
BLÄTTLER: Hemmerle war ein sehr konsequenter Arbeiter, der viele Gespräche und Termine hatte. Er wollte sie sehr genau vorbereitet haben. Wenn er mich nach den Inhalten von Texten fragte und mit meinen Antworten nicht zufrieden war, fragte er: Aus welcher Höhe haben Sie den Text gelesen? – Er war nicht streng oder autoritär, hat aber mit Witz deutlich gemacht, dass er eine hohe Professionalität erwartete.
Die Zusammenarbeit war angenehm und wir haben auch viel gelacht. Aber Hemmerle, der sich ungeheuer um Gemeinschaft bemüht hat, war auch ein Solitär, der seine Freiräume brauchte, in denen er allein etwas erarbeiten konnte. Daher hat er erwartet, dass seine Mitarbeiter ihm nicht zu viel Zeit wegnehmen.

Was haben Sie an ihm geschätzt?
BLÄTTLER: Bei aller Arbeitslast war er jemand, der eine innere Gelassenheit ausstrahlte und sogar spielerisch mit Fehlern umgehen konnte. Er hat immer frei gepredigt, sich aber doch schriftlich vorbereitet und die Ansprache vorher im Auto noch mal durchgelesen. Wenn ich als Sekretär vergessen hätte, ihm seinen Text zu einer Feier mitzunehmen, hätte er es zwar nicht schön gefunden, aber er hatte dann eine diebische Freude daran, diesen Fehler zu nutzen und aus dem Stand eine neue Ansprache zu machen. Diesen konstruktiven Umgang mit eigenen Fehlern und den Fehlern anderer konnte man von ihm lernen. Seinem Ärger Luft machen oder glasklare Dienstanweisungen waren nicht sein Ding.

Zuletzt litt Hemmerle unter einem Tumor, der innerhalb eines Jahres zum Tod führte. Was ist Ihnen aus dieser Zeit wichtig?
BLÄTTLER: Die Erkrankung wie auch der Verlauf hat den Bischof immer wieder überrascht: Alles ging schneller, als er und wir dachten. Als er am letzten Morgen zu Hause aufbrach und zur Bestrahlung ins Klinikum fuhr, hatte er den Bleistift auf seinem Blatt liegen lassen, wollte nachher weiterarbeiten und kam dann nie mehr zurück.
Einerseits hatte er sich intensiv auf sein Sterben eingestellt, anderseits konnte der Tod ihn dann doch überraschen. Wie er mit seinem Sterben gelebt hat, zeigt die Predigt, die er an Allerseelen 1993 1) gehalten hat: Einerseits so im gegenwärtigen Augenblick zu leben, dass man gar nicht an den Tod denkt und einfach gelassen weiterspielt. Und andererseits so im Angesicht des Todes zu leben, dass jeder Augenblick kostbar wird. Der Clou von beidem sei, im Angesicht des Todes so zu leben, als könne einem der Tod nichts anhaben. Bischof Hemmerle hat den Tod angenommen und ihm dennoch nicht das letzte und entscheidende Gewicht gegeben – er hat ihm Stachel und Sieg genommen.


UNGEMEIN ERMUTIGEND

Rita Waschbüsch stand von 1988 bis 1997 als erste Frau dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) vor. Klaus Hemmerle war damals dort Geistlicher Assistent. Waschbüsch ist Vorsitzende des Vereins Donum Vitae, der  Schwangerschaftskonfliktberatung betreibt.

Was ist Ihnen aus der gemeinsamen Zeit in Erinnerung geblieben?
WASCHBÜSCH: Die tiefe Frömmigkeit, aber auch die heitere, den Menschen zugewandte Art. Ich kann mich erinnern, was er für eine Freude hatte, uns in lockerer Runde von seinem Sardinien-Urlaub zu erzählen, von seinen Wanderungen und der italienischen Küche. Oder wie kundig er war, wenn es um die Weine am Kaiserstuhl ging. Also diese lebensfrohe, bejahende Art, seine Sprachspiele, sein Wortwitz. Er war überhaupt nicht abgehoben.
Seinen Kunstsinn sollte man nicht außer Acht lassen. Dabei war er sehr bescheiden. Er spielte es oft herunter: Wenn man sagte, wie wunderbar er etwas gemacht hatte, wurde er sogar ein bisschen verlegen.
Seine Theologie war überragend und hat Christus immer in den Mittelpunkt gestellt. Das fand ich sehr beeindruckend.

Was hat er dem ZdK gegeben?
WASCHBÜSCH: Er hat dazu ermuntert, ernst zu nehmen, was das 2. Vatikanische Konzil sagt: Bringt euch ein, wirkt mit, habt Mut, nicht nur in die Gesellschaft, sondern auch in die Kirche hineinzuwirken. Das war ungemein ermutigend, gerade für die Laien. Er hat immer wieder die Taufe als das Grundsakrament bezeichnet, das nicht Unterschiedlichkeit leugnet, aber Gleichwertigkeit der Christen bedeutet. Das hat mich sehr geprägt.

Es gab Kritiken, er sei zu durchsetzungsschwach gewesen…
WASCHBÜSCH: Das bezieht sich vielleicht mehr auf ihn als Diözesanbischof: Manche meinten, er müsste auch mal mit der Faust auf den Tisch hauen. Das war nicht Hemmerle-Art, das stimmt schon. Ich sehe das nicht als Schwäche. Denn der Bischof hat die Aufgabe, Hirte zu sein, nicht Kommandeur.
Wenn jemand von ihm Unterstützung brauchte, war er da. Wenn im Zentralkomitee der eine oder andere in theologischen Fragen nicht so firm war, konnte man immer „den Hemmerle“ fragen. Er wich auch den banalsten Dingen nicht aus. Ich habe selten einen so hilfsbereiten Menschen gesehen.


COMMUNIO UND MEHRURSPRÜNGLICHKEIT

Reinhard Feiter leitet als Professor das Seminar für Pastoraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Er wurde 1981 in Aachen zum Priester geweiht und war von 1983 bis 1989 Sekretär von Bischof Hemmerle.

Welche Bedeutung hat Hemmerle für die Theologie?
FEITER: Er hat Denkformen bereitgestellt, die über den Augenblick hinaus in Pastoral und Kirche und für die Rechenschaft über den Glauben hilfreich sind. Ein typischer Titel: Weite des Denkens im Glauben – Weite des Glaubens im Denken. Man könnte das als programmatische Formulierung verstehen: Es geht darum, verschiedene Größen aufeinander zu beziehen und so ins Spiel miteinander zu bringen, dass sie sich gegenseitig bereichern: Dass der Glaube in der Lage ist, das Denken weit zu machen, und umgekehrt. Also nicht nur, dass sich Glauben und Denken nicht widersprechen, sondern dass es geradezu eine gegenseitige Steigerung gibt, finde ich spannend bei ihm.
Sein Stichwort dafür lautet „Mehrursprünglichkeit“.

Was ist damit gemeint?
FEITER: Wir finden bei Hemmerle oft Triaden: Selbstsein, Mitsein, Gegebensein, oder Kirche ist für ihn Mysterium, Communio und Missio. Und Mehrursprünglichkeit ist der formale Begriff dafür. Man sagt Hemmerle immer nach, er sei Verfechter einer Communio-Theologie gewesen. Das stimmt und stimmt nicht. Bei ihm ist Kirche zunächst einmal Mysterium: das Geheimnis, dass Gott sich ganz schenkt in Jesus Christus durch den Heiligen Geist. Und deshalb ist die Kirche Communio: Der dreieinige Gott will in und als Gemeinschaft bezeugt werden. Und deshalb ist die Communio Gemeinschaft, die über sich hinausgeht, ja immer schon über sich hinaus in der Welt ist – Missio. Insofern gibt es bei Hemmerle nie nur eine Communio-Theologie, sondern immer ein Spiel zwischen diesen Momenten, diesen verschiedenen „Ursprüngen“. Hier haben wir die Mehrursprünglichkeit.
Gott – die anderen – und wir (oder ich), das ist eine Figur, die eine gewisse Formalität hat, die aber immer auch dazu anhält, nicht beim Einzelnen und Jeweiligen stehenzubleiben, nicht in Festlegungen zu enden. Sondern sie ist bestimmt vom Geschehen und Vollzug: Was ist, vollzieht sich, und indem es sich vollzieht, ist es.
Daran muss man Geschmack finden. Das ist nicht unmittelbar eingängig. Weil es einen immer antreibt, weiterzugehen, noch etwas mehr in Betracht zu ziehen. Nicht zu sagen, das ist es, damit hab ich es, sondern die Geduld aufzubringen, in der sich noch etwas Neues zeigen kann, noch jemand als Mitspieler hineinkommen kann.

Was hat Sie an Hemmerle am meisten beeindruckt?
FEITER: Er hat sehr stark durch das gesprochene, direkte Wort gewirkt. Mit das Wichtigste ist für mich seine Definition: Leben heißt antworten, antworten auf einen Ruf. Das macht den Menschen in seiner ganz persönlichen Existenz stark, lässt ihn aber zugleich bestimmt sein von dem, der ihn meint, der ihn will, ihn herausfordert. Das finde ich für die Pastoral nach wie vor zukunftsträchtig.


ENTWAFFNET UND VERWUNDBAR

Hubertus Blaumeiser ist katholischer Theologe und leitet den Priesterzweig der Fokolar-Bewegung. Er gehört zur „Scuola Abba“, dem interdisziplinären Studienzentrum der Bewegung, die Klaus Hemmerle mitbegründet hat, und lebt in Grottaferrata bei Rom.

Wie kam Hemmerle zur Fokolar-Bewegung?
BLAUMEISER: Geprägt von den Folgen des Naziregimes und vom Denken seines Lehrers Bernhard Welte, suchte Hemmerle als junger Priester nach neuen Ansätzen. Auf Einladung des Freiburger Spirituals Rudolf Herrmann nahm er 1958 an einem Sommertreffen der Fokolar-Bewegung in den Dolomiten teil. Das gelebte Miteinander im Zeichen des Neuen Gebots Jesu – „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe“ – war für ihn umwerfend: „Es war eine Nähe und Gegenwart Gottes, wie ich sie trotz meiner intensiven theologischen Studien nie zuvor erlebt und ermessen hatte”#2)#, erzählte Hemmerle wenige Tage vor seinem Tod. Das war der Anfang seines Lebens mit der Bewegung und die entscheidende Inspiration für ihn als Mensch, Priester und Theologe.

Seit wann gibt es die Treffen der Bischöfe, die der Fokolar-Bewegung nahestehen?
BLAUMEISER: Seine Quelle war schon als Priester das Leben mit „Jesus in der Mitte“ im Fokolar. So hielt Hemmerle auch als Bischof weiter Kontakt. Im Gespräch mit Chiara Lubich, Gründerin der Fokolar-Bewegung, brach die Frage auf: Könnte so ein Leben nicht auch unter Bischöfen entstehen? Wäre das nicht ein wertvoller Beitrag zur Kollegialität? So trafen sich 1978 erstmals Bischöfe im Geist der Bewegung. Merkmale waren der Austausch, das konkrete Teilen des Lebens, das brüderliche Miteinander, das seinen Ausdruck im immer wieder erneuerten „Pakt der gegenseitigen Liebe“ fand: „dass die Freude des einen die Freude des anderen sei, das Kreuz des einen das Kreuz des anderen, damit unter uns beständig die Gegenwart des Auferstandenen leuchtet“.
1982 lud Papst Johannes Paul II. dazu ein, diese Gemeinschaft auch auf Bischöfe anderer Kirchen auszuweiten. Daraus wurde eine wichtige Keimzelle gelebter Ökumene.

Welche Rolle spielte Hemmerle bei der Gründung der „Scuola Abba“?
BLAUMEISER: Chiara Lubich war überzeugt, dass ihr Charisma wichtige Intuitionen für die Theologie und die Kultur enthielt. Um diese aufzuschließen und weiterzugeben, lag ihr das Studium am Herzen. So entstand im Jahr 1990-91 das interdisziplinäre Studienzentrum der Bewegung. Als weitblickender Theologe brachte Hemmerle wichtige Impulse ein, als Bischof bot er Chiara die Möglichkeit zu prüfen, ob ihre Intuitionen und deren theologische und kulturelle Erschließung authentische Entwicklungen der Lehre und der Tradition der Kirche waren.
Nach Hemmerles Tod führte die „Scuola Abba“ unter anderem zur Entstehung des Universitätsinstituts „Sophia“ in Loppiano bei Florenz.

Wo lagen seine Stärken, wo seine Schwächen?
BLAUMEISER: Klaus Hemmerle lebte entwaffnet und war darum auch verwundbar. Er hielt das aus, ohne zurückzuschlagen. Seine Stärke waren Weisheit, Überzeugung und Beziehung, nicht Kalkül und Organisation. In diesem Sinn konnte er als naiv erscheinen.
Bischof Hemmerle buchstabierte im Leben und Denken je neu das Wort Gottes aus, sodass es im jeweiligen Kontext Fleisch annahm und den Menschen nahekam. Beeindruckt hat mich auch seine Liebe zum gekreuzigten und gottverlassenen Jesus: Er wischte Spannungen nicht vom Tisch, sondern nahm sie auf, hielt sie aus und als offene Wunden Gott hin. Von den Abgründen der Welt her „Abba, Vater“ sagen, war für ihn eine sehr existenzielle Weise des Priesterseins.
Clemens Behr

1) zu hören auf www.klaus-hemmerle.de
2) Unser Lebensraum – der dreifaltige Gott. Die Gotteserfahrung von Chiara Lubich, in: „Das Prisma“ 6 (1994) 1, 17-18.
www.facebook.com/klaus.hemmerle

Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar, Februar 2014 )
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