19. März 2014

Über Stolpersteine zueinander

Von nst1

Seit 1952 wird in Deutschland jährlich im März die „Woche der Brüderlichkeit“ 1) begangen.  Die jüdisch-christliche Zusammenarbeit hat das Jahr über viele Ausdrucksformen – von persönlichen Begegnungen bis zu größeren Initiativen, wie in Kaiserslautern. 

Alles begann vor drei bis vier Jahren, beim Einkaufen. So genau kann sich Petra Gnaser nicht mehr erinnern. Die Österreicherin lebt mit ihrer Familie in einem Dorf bei Kaiserslautern. Ein paar Mal war sie zu den interreligiösen Abenden gegangen, zu denen die Katholische Erwachsenenbildung zwei- bis dreimal im Jahr einlud. Bei einem Einkauf kurz vor dem Pessach-Fest 2) erkannte sie eine jüdische Frau wieder, die sie dort getroffen hatte. „Da hab’ ich mir einen Ruck gegeben, sie angesprochen und ihr ein schönes Pessach-Fest gewünscht.“ Die Jüdin russischer Abstammung lud Petra Gnaser in gebrochenem Deutsch herzlich zum Mitfeiern ein. „Weil es sich gut ausging, habe ich mich am Samstag auf den Weg in die Jüdische Kultusgemeinde gemacht.“ Ein wenig Herzklopfen hatte Petra Gnaser dabei schon. Irgendwo „ganz fremd hingehen“ – sie war unsicher: „Ich wollte als Christin ja nicht stören und auch keinen Anstoß geben.“

Zur Jüdischen Kultusgemeinde der Rheinpfalz gehören derzeit etwa 650 Gemeindeglieder; etwa  400 von ihnen leben in Kaiserslautern. Im Gemeindehaus in Kaiserslautern, einem ehemaligen Wohn- und Geschäftshaus, befinden sich seit 1965 neben dem Betsaal für 60 Personen auch ein Büro und wenige Räume für den wöchentlichen Religionsunterricht,  Deutschstunden und andere Aktivitäten. Es liegt in der Basteigasse, gute fünf Minuten Fußweg vom Synagogenplatz, wo zwei nachgebaute Pfeiler und eine Buchsbaumhecke den Grundriss der eindrucksvollen Synagoge markieren, die im August 1938 abgerissen wurde, damit dort ein Exerzierplatz entstehen konnte.

Die meisten Gemeindeglieder, so Vorstandsmitglied Larissa Janzewitsch, stammen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion.

Die Gottesdienste sind in Hebräisch, mit Übersetzung in Russisch und Deutsch.
Petra Gnaser hat deshalb bei ihrem ersten Besuch kaum etwas verstanden. Die herzliche Aufnahme hat das aber wettgemacht. Als sie ein halbes Jahr später wiederkam, saß sie beim anschließenden Essen neben der Südafrikanerin Elsa Vorbrodt, die schon einige Jahre in Deutschland lebt, und Gary Davidson, einem amerikanischen Rabbiner, der in der Airbase Ramstein stationiert ist. Schnell kam sie mit beiden ins Gespräch. Sie ließ sich erklären, „wie ich mich verhalten sollte, etwa wenn die Torarollen herumgetragen werden – sollte ich die berühren, wie einige der Frauen mich mit Gesten aufgefordert hatten?“ Und was war mit der Mesusa 3) an der Tür? Sollte sie die beim Hereinkommen anfassen? „Ich habe verstanden, dass es für orthodoxe Juden ganz schrecklich wäre und dass es ein stärkerer Ausdruck der Liebe ist, wenn ich es lasse.“ Umgekehrt musste sich Petra Gnaser den Fragen ihrer neuen jüdischen Freunde stellen, etwa ob sie regelmäßig zum Gottesdienst gehe.

Eineinhalb Jahre später, Herbst 2012. Die Franziskanerinnen luden zu einem Infoabend über eine geplante Verlegung von „Stolpersteinen“ (Kasten) zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus in der Stadt ein. 50 Bürgerinnen und Bürger aller Altersstufen kamen, unter ihnen auch Petra Gnaser. Man kam schnell überein, zunächst Steine für jene Opfer zu verlegen, deren Angehörige noch lebten. Noch am selben Abend fanden sich Arbeitsgruppen zusammen: Die einen wollten Angehörige kontaktieren, Lebensläufe und -geschichten der Opfer vollständig zusammentragen. Andere kümmerten sich um die Öffentlichkeitsarbeit, einen würdigen Rahmen für die Steinverlegung oder suchten Sponsoren. In vierwöchentlichem Rhythmus informierte man einander, wie alles voranging.

Am 28. August 2013, dem Vorabend der Steinverlegung, fanden sich über 200 Personen auf dem Bahnhofsvorplatz ein. Von hier waren die Opfer in Zügen abtransportiert worden, hier wollte man die vertriebenen, vorwiegend jüdischen Menschen symbolisch wieder begrüßen und ihre Namen in die Stadt zurücktragen, zu den Häusern, in denen sie gewohnt hatten. Dafür hatte die Initiativgruppe die Namen der Opfer auf je ein DIN-A4-Blatt geschrieben und den Teilnehmern mit einer Schnur um den Hals gehängt. In einem Schweigemarsch führte der Weg über das Polizeipräsidium („wo damals die Verhöre stattfanden“) und die Eisenbahnstraße („damals Hitler-Straße“) zur Basteigasse. Würdevoll, ernst und sehr eindrucksvoll haben die Teilnehmer das empfunden.
Auch für Rabbi Gary Davidson waren es bewegende Tage. „Schon als Kind hatte ich vom Holocaust gehört, durch den sechs Millionen Menschen meines Volkes umkamen. Als ich wegen meiner Arbeit nach Deutschland versetzt wurde, war das eine Herausforderung für mich“, erzählt der 50-Jährige, der seit zweieinhalb Jahren in Ramstein ist. „Inzwischen habe ich deutsche Freunde gefunden, das Land schätzen gelernt und meinen Aufenthalt hier verlängert.“

Von den Stolpersteinen erfuhr er kurz nach seiner Ankunft: Dass Deutsche die Nazi-Vergangenheit öffentlich verurteilen und sich für Freiheit und gegenseitige Verständigung einsetzen, hat ihn bewegt. „Als dann auch in Kaiserslautern Steine verlegt werden sollten,“ so Davidson, „war das stark: so nah bei meiner Airbase!“ Beim Schweigemarsch gedachte er vor einer heute sehr beliebten Bar im Stadtzentrum der Opfer; hier waren Juden bis zu ihrer Deportation gefangen gehalten worden. „Dann gingen wir zum Haus eines jüdischen Arztes, der oft kostenlos Armen geholfen hatte, die kein Geld hatten. Trotz seines guten Rufes war er von den Nazis so sehr geschlagen und gequält worden, dass er sich das Leben nahm.“ Man hört die innere Bewegtheit in seiner Stimme.

Am eindrücklichsten aber war für Gary Davidson eine Begegnung vor dem Haus des jüdischen Rechtsanwalts Tuteur.

Nach den Novemberpogromen 1938 schickten die Eltern ihre Kinder Carola, 13, und Claus, 11, nach Belgien. Sie selbst emigrierten Mitte 1939 nach London und versuchten, die Kinder zu sich zu holen. Aber nach der Besetzung Belgiens durch die Wehrmacht 1940 wurden die beiden Teenager 1943 gefangen genommen und kamen 1944 in Auschwitz um. Während Davidson über den Schmerz der Eltern nachdachte, fielen ihm acht ältere deutsche Männer vor dem Haus auf. Petra Gnaser erklärte ihm, dass es Klassenkameraden von Claus Tuteur waren und stellte ihn vor. Sie kamen ins Gespräch: Darf ich fragen, sind Sie Juden? Nein. – Und warum sind Sie dann heute hier? Wir wollen Claus die Ehre erweisen. – Okay. Waren Sie im Krieg? Ja, wir alle. – Davidson war verblüfft. Es war das erste Mal, dass er deutsche Soldaten traf, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten. – Wie haben Sie sich damals gefühlt? Wir waren stolz, für unser Land zu kämpfen. – Und wie standen Sie zu Hitler? Wir waren Soldaten und haben ihn unterstützt. Wir hörten die Propaganda und glaubten daran, denn wir waren zu jung, um es besser zu wissen. – Wie alt waren Sie? 16, als wir eingezogen wurden. – Es war Davidson bis dahin nicht klar, dass „man Kinder eingezogen hatte“. – Haben Sie gekämpft? Gegen Amerikaner und Russen, bis wir in Gefangenschaft kamen.
Erst nach dem Krieg hatten diese Männer die Wahrheit erfahren über Hitler, Nazi-Deutschland und den Tod von Millionen Juden. Der Rabbiner war beeindruckt von ihrer Ehrlichkeit, aber auch „von ihrem Sinneswandel“. Zu seiner eigenen Überraschung bat er sie um ein gemeinsames Foto. Dann nahm ihn einer zur Seite und erklärte ihm mit Tränen in den Augen, wie wichtig die Stolperstein-Aktion für ihn war und wie sehr er sich auch für die Synagogen-Gedenkstätte  eingesetzt hatte.

Davidson sagt, dass sie seit diesem Tag Freunde sind.

Auch Petra Gnaser war berührt von den Zeugnissen der Überlebenden vor den jeweiligen Wohnhäusern, davon, wie wichtig es ihnen war, einen Platz zu haben, wo der Angehörigen gedacht wird. Sicher werden in Kaiserslautern noch weitere Stolpersteine verlegt. Und auch Petra Gnaser will an den entstandenen Beziehungen dranbleiben, vor allem aus Dankbarkeit: „Denn wenn es die Juden nicht gäbe, wären auch wir Christen nicht.“ Außerdem spürt sie, dass Sorge und Angst über antisemitische Tendenzen ihre neuen jüdischen Freunde ständig begleiten, und „will einen kleinen Beitrag leisten, damit sie sich hier wohlfühlen.“
Gabi Ballweg

1) Vom 9. bis 16. März, unter dem Motto „Freiheit – Vielfalt – Europa“, hat sie den jüdisch-christlichen Dialog, die Zusammenarbeit zwischen Christen und Juden sowie die Aufarbeitung des Holocaust zum Ziel. www.deutscher-koordinierungsrat.de
2) Pessach, eines der wichtigsten Feste im Judentum, erinnert an die Befreiung der Israeliten aus ägyptischer Sklaverei.
3) Eine Schriftkapsel mit den Geboten Gottes, die am Türpfosten angebracht ist. (vgl. 5 Mos 6,9 und 11,20)

Stolpersteine
Messingplatten auf kubischen Betonsteinen erinnern an Menschen, die in der NS-Zeit verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden. Sie werden in der Regel vor den letzten frei gewählten Wohnhäusern der Opfer in das Pflaster des Gehweges eingelassen. Derzeit finden sich rund 42 500 Steine in Deutschland und 15 weiteren europäischen Ländern. Initiator ist der Kölner Künstler Gunter Demnig.
www.stolpersteine.eu

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März 2014)
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