15. April 2014

Keiner will dumm bleiben!

Von nst1

Wer nicht richtig lesen kann, hat schlechte Chancen. Alle Kinder wollen es lernen, auch wenn sie sich manchmal schwer tun damit. Davon ist Lese- und Literaturpädagogin Barbara Knieling fest überzeugt. Wie man sie dabei unterstützen kann, was sie motiviert und was man vermeiden sollte, erklärt die Vorsitzende des Bundesverbandes Leseförderung.

Frau Knieling, wie wichtig ist Vorlesen für Kinder?
KNIELING: Vorlesen ist eine frühe positive Bindung zum Lesen und zur Literatur. Die Person, die vorliest, nimmt sich Zeit. Man kann nichts anderes nebenbei machen und das nehmen Kinder positiv wahr. Sie spüren, Mama, Papa, Oma, Opa, wer auch immer, ist jetzt ganz für mich da.
Dieses positive Erlebnis von Nähe und Zuwendung verbinden Kinder mit den Geschichten. Die sprechen sie darüber hinaus auch auf kognitiver Ebene an, helfen ihnen, ihren Alltag zu verstehen, erweitern den Horizont und geben Antworten auf Fragen, mit denen sie sich beschäftigen. Einerseits wird also das Wissensbedürfnis befriedigt und gleichzeitig kommt der emotionale Bindungsaspekt zum Tragen. Das bringt dem Kind einen Lustgewinn.

Hilft das denn beim Lesenlernen?
KNIELING: Kinder, die diese positiven Erfahrungen in ihren ersten Lebensjahren gemacht haben, erhoffen sich diesen positiven Lustgewinn, wenn sie selbst lesen können. Deshalb machen sie sich mit großer Motivation daran, es zu lernen. Oft ist es dann aber gar nicht so einfach, wie die Kinder es sich vorstellen. Da trägt diese Motivation sie durch die Täler: Wenn ich das jetzt schaffe, kann ich mir all diese Dinge selbstständig erschließen, ohne immer auf einen Vermittler angewiesen zu sein.

Tun sich Kinder, die vorgelesen bekamen, leichter mit dem Lesen?
KNIELING: Leider nicht! Grundsätzlich haben Kinder eine hohe Motivation zum Lesen. Sie merken einfach, nicht lesen können, heißt in vielen Dingen ausgeschlossen und immer auf einen Vermittler angewiesen sein. Das läuft unserem Autonomiebestreben zuwider, das auch schon dem Kleinkind eigen ist. Deshalb ist die Motivation zum Lesen grundsätzlich vorhanden.
Aber Kinder, die vorgelesen bekamen, haben bereits die Fülle erlebt, die zwischen zwei Buchdeckeln enthalten ist. Sie wissen, welches Füllhorn an Wissen, Fantasie und Lustgewinn, Spannung und Abenteuer sich ihnen eröffnet, wenn sie in der Lage sind, die Zeichen zu entschlüsseln. Das ist eine starke Motivation, wenn es am Anfang mühsam ist.

Es kann aber auch ein anderer Effekt eintreten: Bisher haben sie erlebt, dass Erwachsene das Buch aufschlagen und quasi mühelos vorlesen. Nun mühen sie sich selbst mit Vier- oder Achtzeilern ab und wissen dann kaum, was sie gelesen haben. Das kann frustrierend sein. Deshalb kann es sein, dass sie sagen: Du kannst mir ja weiter vorlesen. Daher ist es umso wichtiger, dass Bezugspersonen die Kinder unterstützen, ihnen zur Seite stehen und sagen: Ja, es fällt einem nicht in den Schoß, aber du schaffst das! Und eines Tages fällt es dir genau so leicht, wie mir jetzt.
Denn das ist die Krux beim Lesen: Nur wenn man liest, trainiert man Leseflüssigkeit und Lesegeläufigkeit. Würden die Kinder nachlassen, würde ein Teufelskreis beginnen. Deshalb sollte man ihr Interesse stärken, damit sie dranbleiben und Erfolg ernten können.

Wie lange dauert der Lernprozess denn?
KNIELING: Der klassische Anfangsunterricht in der Schule ist auf die ersten beiden Jahrgangsstufen ausgerichtet. Man geht davon aus, dass Kinder dann schon kurze Texte lesen und erfassen können. Durch die neuere Forschung weiß man aber, dass diese Prozesse bis zu sechs Jahre dauern können. Darauf ist unser Schulsystem letztlich nicht vorbereitet.

Auch während des Schriftspracherwerbs kann man mit Vorlesen viel erreichen. Denn die Mechanismen, die Kinder nutzen, um Texte zu verstehen und zu verarbeiten, nutzen sie auch beim selbstständigen Lesen. Durch Vorlesen werden sie von der Last des Selbst-Lesens befreit und können sich ausschließlich um das Verarbeiten kümmern. Je flüssiger sie aber selbst lesen können, umso paralleler und synchroner verlaufen die technische Seite des Lesens und der Verarbeitungsprozess, die erst gemeinsam das Leseverständnis ermöglichen.

Welche Fehler können Eltern und Lehrer dabei machen?
KNIELING: Dass man Kindern zu schnell zu viel zumutet. Wenn sie beispielsweise zu früh unbekannte Texte lesen sollen. Man kann ihnen sehr helfen, indem man ihnen eine Ahnung gibt, in welche Richtung der Text geht. Dann aktivieren sie ihr Vorwissen und sind besser in der Lage, den Inhalt zu erfassen. Lesen ist ja Verknüpfung mit vorhandenem Wissen.
Das setzt aber voraus, dass ich weiß, worum es geht. Gäbe es in der Tageszeitung keine Überschriften und Bilder, wäre es mühsam, sich zu orientieren. Die Überschrift holt uns gedanklich ab. Sie setzt einen Anker, wir fangen an zu verknüpfen und je nachdem, ob die Überschrift oder das Bild uns anspricht, lesen wir oder nicht.
Bei Kindern, die noch Schwierigkeiten haben, braucht es diese Hinführung durch Erzählen oder dadurch, dass man über Bilder spricht. So wissen sie, was sie erwartet, und die Textverarbeitung fällt leichter. Kinder mit fremden, unbekannten Texten allein zu lassen, ist deshalb nicht gut. Genauso wenn die Textmenge zu schnell zu umfangreich ist.

Am Anfang geht es um Erfolgserlebnisse. Also lieber ein kurzer Text, den das Kind versteht, als ein langer, der es überfordert. In Bibliotheken kann man sich kurze Erstlesebücher ausleihen. Man sollte dabei unbedingt der Versuchung widerstehen, ein dickes Buch mit umfangreichem Text und wenigen Bildern auszuwählen, in der Annahme, dass das Pensum zu bewältigen wäre. Was für Erwachsene leicht aussieht, ist es für Kinder nicht immer. Deshalb lieber weniger Text, der Erfolgserlebnisse beschert, als viel, der zu Unlust führt.

Man sagt, Jungs tun sich schwerer mit dem Lesen. Stimmt das?
KNIELING: Tendenziell ja. Aber woran es liegt, weiß man nicht genau. Es wird vermutet, dass Jungs andere Strategien nutzen für den Leseerwerb. Tendenziell brauchen sie etwas länger, bis sie es durchdrungen haben. Aber es gibt unter ihnen genauso gute Leser wie unter Mädchen.
Was erschwerend hinzukommen kann, ist die Tatsache, dass die Mehrzahl der Vermittler weiblich ist. Es fehlt oft an männlichen Vorbildern.

Ein erster Leseknick stellt sich mit acht, neun Jahren ein, wenn die Jungen und Mädchen merken, die Texte werden komplizierter, komplexer. Wenn man sie in dieser sensiblen Phase erreichen kann, dass sie dranbleiben, wird es oft ein Selbstläufer, auch wenn später dann noch einmal eine Lesepubertät kommt. Dass Lesen nicht immer die gleiche Wertigkeit im Lebensgefüge hat, ist völlig normal. Aber es geht letztlich darum, Lesen ins Lebenskonzept zu integrieren, weil wir eine Gesellschaft sind, in der nicht oder schlecht lesen können tatsächlich Ausschluss bedeutet.

Wie kann man lesemüde Jugendliche zum Lesen bewegen?
KNIELING: Zunächst ganz klar: Lesen findet nicht nur klassisch im Printmedium statt, sondern zunehmend in digitaler Form. Jugendliche lesen extrem viel an Notebooks und Smartphones. Die klassische Buchlektüre ist bei Mädchen sehr ausgeprägt, bei Jungen nicht immer so sehr. Patentlösungen das zu ändern, gibt es aber leider nicht. Es ist ja nicht, dass sie per se kein Interesse haben. Vielmehr geht es oft einfach nur darum, dass sie sich gegen einen gewissen Druck – von Lehrern oder Eltern – auflehnen. Und dann liegt es natürlich auch daran, welche Literatur gewählt wird. In der Schule könnte man da sicher mehr erreichen, wenn Lehrkräfte offener wären, sich mit aktueller Jugendliteratur auseinanderzusetzen und sie bewusst in den Unterricht einzubauen. Warum muss eine Klasse zwingend dasselbe Buch lesen, warum können die Jugendlichen nicht auswählen und mehrere Bücher gleichzeitig lesen? Wenn man dann darüber spricht, wird im Idealfall dadurch das Interesse an den Büchern geweckt, die andere Klassenkameraden gelesen haben.

Es ist also eine Frage der Motivation, ob Jugendliche lesen?
KNIELING: Sicher, das geht uns allen so. Wenn ich merke, das bringt mir etwas – egal ob kognitiv oder emotional – dann tue ich das. Aber manchmal braucht es jemand, der mir den Zugang eröffnet. Da kommen wieder die Vorbilder ins Spiel – Familie, Freunde, Lehrer, Literaturvermittler … Ganz wichtig ist auch das Gespräch über die Lektüre. Leseclubs sind da sehr wichtig und wertvoll.

Man kann mehr erreichen, als man denkt. Aber als Vermittler muss man auch über den eigenen Schatten springen und von den Jugendlichen her denken. Woran liegt es, wenn Jungen nicht lesen? Sie sind neugierig, lesen am Laptop, mögen oft eine andere Art von Literatur, es darf flapsiger oder slapstickartiger sein. Da gibt es viele ganzheitliche, lustmachende Methoden, die man noch mehr nutzen könnte.
Das Unabhängigkeitsstreben ist eine große Motivation. Jeder will sich selbstständig informieren können und dabei nicht immer auf andere angewiesen sein. Keiner will ja dumm bleiben.

Deshalb ist Leseförderung und Lesesozialisation sehr, sehr wichtig. Dabei geht es um viel mehr als die Kulturtechniken „Lesen“ und „Schreiben“ allein. Es geht darum, dass man Texte lesen und verstehen und dann seine Gedanken dazu nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich formulieren kann. Es geht also um den Menschen und seine Entwicklung. Und da können wir Kindern und Jugendlichen sehr viel mit auf den Weg geben.

Vielen Dank für das Gespräch.
Gabi Ballweg

Barbara Knieling,
Jahrgang 1965, hat ihre Leidenschaft für Bücher zum Beruf gemacht, zunächst als Buchhändlerin, dann als Lese- und Literaturpädagogin. Sie möchte so bei Eltern die Freude am gemeinsamen Lesen mit ihren Kindern wecken.

Seit 2012 ist Knieling Vorsitzende des Bundesverbandes Leseförderung, der sich die Unterstützung und Weiterentwicklung der professionellen Leseförderung im deutschsprachigen Raum auf die Fahnen geschrieben hat. Knieling ist verheiratet und hat drei Kinder.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2014)
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