13. Mai 2014

Wenn Europa, dann ganz!

Von nst1

Vor der Europawahl am 25. Mai scheint dem gemeinsamen Projekt Europa die Puste auszugehen. Die Skepsis wächst: Welche Rolle spielt die Europäische Union noch? Bricht die EU auseinander? Handeln die Politiker in Brüssel noch im Interesse der Bürger in den EU-Mitgliedsländern?
Dass der alte Kontinent wirtschaftlich und politisch zusammenwächst, ist ein unumkehrbarer Prozess, meint dagegen der Diplomat und Politikwissenschaftler Pasquale Ferrara vom „Forum Politik und Geschwisterlichkeit“ (siehe Info-Kasten).

Herr Ferrara, vielen Menschen in Europa ist die EU viel zu weit weg. Spricht das nicht gegen Ihre These, dass Europa vorankommt?
FERRARA: Heute wird viel davon gesprochen, dass die europäischen Institutionen eine Krise der Legitimation durchlaufen, aber ich glaube nicht, dass das Problem darin besteht. Viel ernster zu nehmen ist hingegen, dass die Europäische Union ein Konsens-Problem hat. Die Bürger stellen nicht die EU als solche in Frage, sondern ihre Politik, und diese EU-Politik läuft Gefahr, Schatten auf den Integrationsprozess zu werfen.
Die Frage ist also: Wie konnte es passieren, das dieses Projekt, dass eigentlich von Anfang an eine immer stärkere Vereinigung unter den europäischen Völkern schaffen wollte, jetzt von vielen Europäern nicht nur als fremd, sondern zuweilen als feindlich empfunden wird?

Hat man vielleicht den Wunsch nach Autonomie so sehr betont, dass jetzt das, was von Brüssel kommt, als Einmischung in die eigenen Angelegenheiten empfunden wird?
FERRARA: Ich glaube, genau das Gegenteil ist das Problem: Europa ist nicht erfolgreich und auch politisch, etwa in der Wirtschaftspolitik, nicht effektiv, gerade weil es noch zu wenig Europa gibt. Es wird weithin behauptet, Europa habe versagt, gerade weil es nur eine wirtschaftliche Union ist und keine politische. Aber auch das stimmt nicht, denn wir haben einen gemeinsamen Markt, eine gemeinsame Währung, aber eben keinen europäischen Wirtschaftsminister, keine gemeinsame Steuerpolitik.

Hier möchte ich gleich mit einem Missverständnis aufräumen: Es waren die Mitgliedstaaten selbst, die entschieden haben, den Integrationsprozess zu stoppen und Politikbereiche der EU wieder auf die nationale Ebene zurückzuholen. Wir können also nicht den europäischen Institutionen die Schuld dafür geben, dass sie nicht effektiv sind, wenn wir ihnen nicht die Instrumente an die Hand geben, damit sie handlungsfähig sein können. Ich denke, für dieses Missverständnis tragen die Politiker in den einzelnen Staaten eine große Verantwortung.

Dennoch hört man oft: Wir müssen dies oder jenes so machen, weil Europa es so vorgibt…
FERRARA: Das ist eine der Mechanismen, die ich meinte: der EU Fehlhandlungen in die Schuhe zu schieben, die in Wirklichkeit aus einem Abstimmungsprozess zwischen den einzelnen Regierungen hervorgegangen sind. Die Minister aller EU-Länder treffen sich in Brüssel und die Entscheidungen werden nach einem Beratungsprozess gefällt, in einer demokratischen Auseinandersetzung zwischen den Repräsentanten der Mitgliedstaaten. Brüsseler Bürokraten, die morgens aufwachen und plötzlich dies oder das entscheiden, gibt es nicht! Die Regierungen waren also auch bei unbequemen Entscheidungen voll mit einbezogen, wenn sie nach Hause kommen und verkünden: „Das hat uns Europa aufgezwungen!“ Als Bürger haben wir die Möglichkeit zu kontrollieren, zu kritisieren, müssen dabei aber von einem korrekten Verständnis dessen ausgehen, was die EU in diesem Moment ist.

Kommen wir zu den Beziehungen nach außen: Auch bei der Außenpolitik wird oft beklagt, dass die EU nicht mit einer einheitlichen Stimme spricht.
FERRARA: So wie es keine europäische Wirtschaftpolitik gibt, die diese Bezeichnung verdient, gibt es auch keine entsprechende Außenpolitik! Das schränkt nicht nur die Leistung und die Wirkung der Außenpolitik der Europäischen Union ein, sondern auch ihre Glaubwürdigkeit. Unterschiedliche Empfindsamkeiten, verschiedene geopolitische Prioritäten im Innern der EU vermitteln nicht gerade den Eindruck eines starken, integrierten und verlässlichen Raumes, sondern eines großen Missklangs.

Das „Forum Politik und Geschwisterlichkeit“ inspiriert sich an der Spiritualität und der Kultur der Einheit. Heißt das in Bezug auf die EU, dass Sie ein besseres, einmütigeres Europa anstreben?
FERRARA: Die EU hat ein beeindruckendes Motto: „In diversitate concordia – Eintracht in Vielfalt“. Darin steckt die Erkenntnis, dass bis zum Ziel der Einheit oder Eintracht ein Weg zurückzulegen ist, andererseits zugleich die Wertschätzung der einzelnen Identitäten. Die Unterschiede in Europa sind kein Makel. Nur muss die europäische Identität auf dem Weg der EU so durchbuchstabiert werden, dass alle einbezogen sind.

Das „Forum Politik und Geschwisterlichkeit“ unterstreicht genau diese Dimension: Einheit bedeutet nicht Vereinheitlichung; sie bedeutet, dass zusammen Wege zu finden sind, die den berechtigten Ansprüchen einer nationalen Identität gerecht werden; das jedoch in einer Welt, die in immer stärkeren gegenseitigen Wechselwirkungen steht und deshalb Zusammenarbeit notwendig macht. Die Zukunft Europas steht auf dem Spiel, und sie kann nur mit dieser länderübergreifenden Dimension gelingen und nicht mit einer noch größeren Zersplitterung.
Adriana Masotti, Radio Vatikan

Pasquale Ferrara, 55, hat in Neapel Politikwissenschaft studiert. 1984 in den diplomatischen Dienst eingetreten, war er in Santiago de Chile, Athen, Brüssel und Washington tätig. Er ist Generalsekretär am Europäischen Universitätsinstitut in Fiesole/Florenz und unterrichtet an mehreren Universitäten Internationale Politik.

Ferrara gehört zum Internationalen Zentrum des „Forums Politik und Geschwisterlichkeit“ (MPPU) der Fokolar-Bewegung in Rom. Diese Initiative bietet über Parteigrenzen hinweg eine Plattform für alle, die Politik als Dienst am Menschen verstehen und ihr eine Seele geben wollen; die ihr politisches Handeln als Ausdruck einer gelebten Geschwisterlichkeit sehen, die auf den Frieden und die Einheit der Völker abzielt.
www.eui.eu
www.mppu.org
www.politik-und-geschwisterlichkeit.de
www.politic-forum.ch

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2014)
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