15. Mai 2014

Wie Mörtel zwischen den Steinen

Von nst1

Das Ehepaar Mikl setzt sich in Wiener Neustadt (Niederösterreich) seit sieben Jahren für einen „interkulturellen Klimawandel“ ein – und hat dabei Höhen und Tiefen erlebt.

Sie waren geschockt! Erst 2007 war Familie Mikl nach Wiener Neustadt übersiedelt. Bald darauf kamen die beiden Söhne aus der Schule und sagten, dass sie sich wohl eine Waffe zulegen müssten, damit sie sich im Zweifel gegen die rivalisierenden ausländischen Jugendbanden behaupten könnten.
Knapp 42 000 Einwohner leben in der niederösterreichischen Stadt, 50 Kilometer südlich von Wien. Fast 25 Prozent haben einen Migrationshintergrund; 112 Nationen sind vertreten. Viele von ihnen kamen in den 1960er-Jahren als „Gastarbeiter“ aus dem ehemaligen Jugoslawien und der Türkei. Später holten sie ihre Familien nach. Zuletzt zogen vermehrt Zuwanderer aus Deutschland, den östlichen Nachbarstaaten und Flüchtlinge aus Afghanistan, Tschetschenien und Syrien nach Wiener Neustadt.

Vor allem die unter türkischen Jugendlichen verbreiteten Jugendbanden und politische Positionen, die starken Aufwind verzeichneten und Misstrauen und Angst vor Fremden schürten, alarmierten Elisabeth und Johannes Mikl: „Wir können die Lösung dieses Problems doch nicht unseren Kindern überlassen!“ Elisabeth Mikl hatte erstmals Angst um das Zusammenleben in der Stadt.

Das Ärzte-Ehepaar beschloss, die Ärmel hochzukrempeln und begann, wo immer es sich ergab, Beziehungen zu ausländischen Mitbürgern zu knüpfen. Dabei half ihnen, dass sie sich auch vorher schon für andere Kulturen interessiert und Schulungskurse über andere Religionen besucht hatten. Johannes Mikl wusste aus eigener Erfahrung, was Integration bedeutet, denn er gehört zur slowenischen Minderheit in Österreich. Ihren Einsatz sahen sie als „ Gebot der Stunde“ und fühlten sich darin auch durch die Spiritualität der Einheit bestärkt, aus der beide schon seit Jahren leben. Verbündete im Einsatz für ihre Stadt fanden sie in einem anderen Ehepaar aus der Fokolar-Bewegung. Miteinander setzten sie nicht nur auf die eigenen Kräfte, sondern darauf, dass „Gott mit uns ist “, ganz nach der Zusage Jesu: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Matthäus 19,20)

Dann haben sie sich führen lassen, sagt Elisabeth Mikl rückblickend. Etwa als sie Cengis, einen Aleviten, kennenlernten, der sich im städtischen Integrationsbüro engagierte. Ihn luden sie 2010 zu einem christlich-muslimischen Symposium in Innsbruck ein, das die Fokolar-Bewegung dort mit der Universität organisiert hatte. Wegen der starken Spannungen mit den Sunniten war Cengis aus der Türkei ausgereist. In Innsbruck beeindruckte ihn nun das Zeugnis eines alevitisch-sunnitischen Ehepaars. Weil es „diese Art des Dialogs“ auch in Wiener Neustadt unbedingt brauchte, wollte er Mikls nicht nur bei der Vorbereitung eines multikulturellen Festes dabei haben.

„Das Flugfeld ist eines der sozial schwächsten Viertel unserer Stadt, mit sehr hohem Migrantenanteil“, erklärt Johannes Mikl. Deshalb sollte das „Flugfeldfest“1) möglichst vielen Gruppen die Gelegenheit geben, sich und ihre kulturellen Besonderheiten einzubringen. Mikls wollten unbedingt die Jugend im Boot haben.

Der Informatiklehrer ihres Sohnes entwarf ein Medienprojekt: Schülerinnen und Schüler machten Aufnahmen und Interviews und berichteten auf Youtube, Facebook, in lokalen Zeitungen und TV-Sendungen.

Die Begeisterung der Jugendlichen bewirkte einen „Klimawandel“ zwischen Alteingesessenen und Neuzugezogenen. „Plötzlich war Integration cool“, erinnert sich Elisabeth Mikl. Politische Parteien wollten sich den Erfolg auf ihre Fahnen schreiben. Schnell stellten Mikls aber klar, dass das Zusammenleben in der Stadt parteiübergreifend und nicht nur einer politischen Gruppe wichtig war. „Vielleicht war das neben Liebe und Zeit unser wichtigster Beitrag.“

Bei zahlreichen Initiativen im sozialen Bereich wurden Beziehungen zwischen Einheimischen und Zugewanderten geknüpft. „Es war nur eine Frage der Zeit,“ bis es zur Vernetzung der verschiedenen Religionsgruppen kam. Seit 2011 treffen sie sich im „Interreligiösen Forum“. Alle zwei Monate „touren wir durch die Religionsgemeinschaften in der Stadt: lernen einander kennen, tauschen uns aus“, erläutert Elisabeth Mikl, die sich zusammen mit der Integrationsbeauftragten der Stadt um das „Interreligiöse Forum“ kümmert.

Und dann der März 2012: Ein 15-jähriger muslimischer Jugendlicher zündete die Erntekrone im Seitenschiff des Domes an. Nur weil eine Eisentür und der schnelle Einsatz der Feuerwehr den Übertritt des Feuers auf den Dachstuhl verhinderten, kam es nicht zum Totalschaden. Der Brandanschlag auf den Dom, das historische Wahrzeichen der Stadt, verursachte einen Sachschaden von 1,2 Millionen Euro. Die ganze Stadt stand unter Schock!
„Auch wir im Interreligiösen Forum waren wie gelähmt. Alles schien in Frage gestellt. Keiner wusste, wie es weitergehen sollte“, erinnert sich Elisabeth Mikl. Erst nach und nach suchten sie das Gespräch im kleinen Kreis. Und dann kam die Idee zu einem multireligiösen Gebet im Dom. Bei den Vorbereitungstreffen, zu denen alle Vereine und Kirchen geladen waren, konnten alle ihre Ideen und Bedenken einbringen. Katholiken, Muslime, Serbisch-Orthodoxe und die Neuapostolische Kirche einigten sich so auf ein vielfältiges Programm.

„Wir waren uns des Wagnisses dieser Feier bewusst“, erzählen Mikls, und Elisabeth fügt hinzu, dass sie die Woche vorher „durchgezittert“ habe. Am 17. November 2012 war der Dom bis auf den letzten Platz besetzt, mindestens 400 Menschen aller Religionen. An die berührende Atmosphäre der Solidarität und Verbundenheit erinnern sich in Wiener Neustadt nicht nur Mikls. Eine Besucherin sagte: „Es gibt nun eine Zeitrechnung vor diesem Ereignis und eine Zeit danach. Jetzt können wir nicht mehr zurück!“ Und ein Mann meinte: „Ich bin kein Kirchengeher und habe Religionen bisher immer als Ursache von Trennung gesehen. Heute habe ich verstanden, dass Religionen Werte in sich tragen, die allen gemeinsam sind. In der Vermittlung dieser Werte sind sie unersetzlich! Auf diese Weise werden sie attraktiv!“

„Man hätte den Dombrand politisch ausnutzen können und auch das multireligiöse Gebet“, weiß Johannes Mikl, aber nichts davon war geschehen, nicht eine negative Schlagzeile zu lesen. Das erklärt sich für den Kardiologen nur aus dem tragfähigen Netzwerk an Beziehungen und gegenseitigem Vertrauen. Wie Mörtel zwischen den Steinen wollen Mikls dabei sein: den Raum für Begegnung schaffen und Verbindungen in gegenseitiger Wertschätzung fördern.
In der Folge wollte man im Interreligiösen Forum die gemeinsamen Werte und Ziele in einem Positionspapier festhalten. „Wenn wir  unsere Stimme nicht erheben, werden das andere tun“, meint Elisabeth Mikl. Trotzdem war es dann kein leichtes Unterfangen! „Erst einmal musste sich ja jeder bewusst werden, was er selbst wollte, bevor wir das miteinander ausdrücken konnten.“ Spannung lag in der Luft; der Druck löste sich erst, als Elisabeth Mikl deutlich machte: „Wir werden das Papier erst dann verabschieden, wenn jeder sich mit dem Inhalt wohlfühlt, selbst wenn wir noch 100 Jahre hier sitzen.“2)

Als eine „Allianz der Vernünftigen“, die sich für das Gemeinwohl in ihrer Stadt verantwortlich wissen, sehen Mikls das Forum. Sie sind sich bewusst, dass das Engagement Wachsamkeit verlangt und man nicht „blauäugig“ herangehen darf. So haben sich vor dem multireligiösen Gebet auch salafistische Gruppen gemeldet. Das hat ein paar schlaflose Nächte gekostet. Aber im Rückblick können sie auch dem Positives abgewinnen: „Wir wissen jetzt, welche Gruppen es in unserer Stadt gibt und kennen auch die mit extremen Positionen.“ Und nur wenn man sie kennt, kann man ihnen auch begegnen.

In diesen sieben Jahren ist Mikls vieles klar geworden – auch wie sehr den muslimischen Mitbürgern daran liegt, als „Bürger auf Augenhöhe“ anerkannt zu werden. „Und wir können viel von ihnen lernen, gerade was ihren Sinn für Familie betrifft“, unterstreicht Johannes Mikl. Dass er sehr vieles vom Leben und auch den Schmerzen der Migranten teilen darf, ist für ihn eine große Bereicherung. Für Elisabeth Mikl haben die interreligiösen Begegnungen immer etwas sehr „Edles“ und jedes Mal wird durch die Begegnung mit den anderen ihr eigener Glaube gestärkt.

Wie es nun weitergeht? Mikls wissen es nicht, aber sie wünschen sich, dass das Forum immer mehr die Seele der Stadt und eine Plattform der Begegnung im gegenseitigen Respekt voreinander und im Dienst an der Gesellschaft ist. Ein muslimischer Freund drückte es so aus: „Unsere Spiritualität ist die Quelle, die uns nährt. Dadurch können wir gute Nachbarschaft leben, uns für soziale Gerechtigkeit einsetzen und moralische und ethische Werte verwirklichen.“ Und auch wenn sich in diesen Jahren in Wiener Neustadt viel getan hat, „bleibt die Angst ein sehr sensibles Thema“, gesteht Elisabeth Mikl. „Aber die Gemeinschaft ist stärker als die Angst. Und so bleibt eine stille, tiefe und demütige Freude!“
Gabi Ballweg

1) Seit 2010 findet das Fest jährlich mit großer Beteiligung statt.
2) Positionspapier: www.wn-vielfalt.at/?page_id=2904

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2014)
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