16. September 2014

Ein Leben lang geführt

Von nst1

Melitta Burger hat in ihren 94 Lebensjahren viel erlebt. „Immer wieder bin ich geführt worden und habe so viel Glück gehabt“, ist sie sich dankbar bewusst. Auch im Alter ist die Münchnerin vielseitig engagiert.

Die Treppen zu ihrer Wohnung im vierten Stock in München-Haidhausen bewältigt sie behände, ohne aus der Puste zu kommen. „Die halten mich fit“, meint die 94-Jährige. In der winzigen Küche besteigt sie einen massiven Hocker, um von ganz oben im Schrank die passende Tasse zu holen. Den Balkon genießt sie, erfreut sich an den blühenden Linden. Auch die Heckenrosen in einem Vorgarten, an dem sie regelmäßig vorbeikommt, sind ein kleiner Glücksmoment für die Leben sprühende und begeisterungsfähige Frau.

Offenheit, Wahrnehmen des Schönen, wo es sich bietet, und sich dankbar daran freuen, das kennzeichnet Melitta Burger. So nimmt sie im Bäckerladen an der Ecke den positiven Spruch wahr, den die junge Türkin dort täglich ans Schaufenster schreibt. Und sie sagt der jungen Frau auch, wie sehr sie das freut. „Solche Rückmeldungen tun gut, ermutigen die Menschen!“, weiß sie, vielleicht gerade weil ihr selbst in ihrem Leben solche Ermutigung oft fehlte. „Deshalb drücke ich anderen gern meine Wertschätzung aus.“

In der Tat war ihre Kindheit alles andere als rosig: Der Vater, Gymnasiallehrer, starb, als sie dreizehn war, und die kranke Mutter wurde als „lebensunwert“ von den Nazis umgebracht. Sie und ihre Schwester standen allein da! Für Melitta Burger war der Berufswunsch früh klar:

Das erste Ausbildungsjahr machte sie beim Herder-Verlag in Freiburg.

Als ihr dann die Buchhändlerschule in Leipzig empfohlen wurde, ging sie dorthin: „Das war die schönste Schule meines Lebens“, schwärmt sie. Aber 1942 wurde sie wie viele junge Frauen zum Kriegsdienst verpflichtet. Als Luft-Nachrichtenhelferin in Ostpreußen wurde sie als Funkerin im Wetterdienst eingesetzt. Die Morsezeichen beherrscht sie immer noch wie im Schlaf.

Bei Kriegsende stand sie auf der Straße. Wohin nun? Ihre ältere Schwester hatte sich längst ihren Weg gesucht, und andere Angehörige hatte sie keine mehr. Als Kind hatte sie einmal Ferien bei den Missionsbenediktinerinnen in Wessobrunn gemacht. Da konnte sie fragen! Die Schwestern schickten sie wie viele Kriegsentlassene auf das Klostergut Kerschach – ein landwirtschaftliches Paradies: Hier gab es gut zu essen!

Gleich in den ersten Tagen hatte die Ausgehungerte ein Schlüsselerlebnis. Eines Mittags gab es Kuchen zum Nachtisch, und eine andere Heimkehrerin schenkte Melitta ihr Stück. „Diese liebevolle Geste hat mich so berührt, dass ich sie nie vergessen konnte“, erzählt sie. Oft führten die beiden jungen Frauen tiefe Gespräche miteinander, über ihre Zukunft, auch über religiöse Entscheidungen. Als sich die Wege der beiden – Regina B. wollte Volkswirtschaft studieren – trennten, blieben sie in Briefkontakt. Nachdem Melitta Burger ihrer Freundin aber einmal ausführlich ihr Herz ausgeschüttet hatte, kam als Antwort: „Ein Brief ist doch kein Aufsatz!“ Schockiert brach die Gekränkte die Beziehung ab, ein für allemal!

Zwanzig Jahre später. Frau Burger, inzwischen Leiterin der Münchener Stadtjugendbibliothek, empfängt eine interessierte Sozialfachschul-Klasse.

Da deren Dozentin früher weg muss, hinterlässt sie ihre Visitenkarte: Professorin Regina B. – sie waren einander begegnet, ohne sich wiederzuerkennen! Die Bibliothekarin rief gleich an: Was ihre „alte“ Bekannte erzählte, als sie Melitta vorschlug, an einer Begegnung in der Technischen Universität teilzunehmen, erschien dieser etwas mysteriös. Aber mit zwei Freundinnen ging sie trotzdem hin.

„Alle haben sich umarmt, nur wir kannten niemanden.“ Alles war ein wenig befremdlich. Von Regina B. keine Spur. Wo waren sie da bloß hingeraten? Aber Regina B. hatte doch einen vernünftigen Eindruck gemacht, da musste etwas dran sein! Um das herauszufinden, machte Melitta Burger sich zu monatlichen Gottesdiensten in Schwabing auf, nach denen man sich darüber austauschte, wie es einem mit dem jeweiligen Motto-Wort aus dem Evangelium – dem „Wort des Lebens“ – ergangen war.

Von Berufs wegen hatte Melitta viel mit Kindern in bedrängten Verhältnissen zu tun. In einem Wort des amerikanischen Kinderbuchautors und -Illustrators Maurice Sendak fand sie sich voll wieder: „Es muss im Leben mehr als alles geben.“ – Dass es noch viel mehr gibt als die materielle Welt, wollte sie den Heimkindern gern mitgeben. Aber wie? Melitta Burger war ständig auf der Suche.

In ihrer Abschiedsvorlesung (sie zog nach Italien um) beschrieb die Soziologiedozentin Regina B. die aktuelle Weltsituation und entwickelte die Vision eines weltweiten Miteinanders auf der Basis des gelebten Evangeliums, einer „Neuen Gesellschaft“, von der schon real etwas vorhanden ist. Das war’s, genau das! Und weil Regina B. diese Vision in der Fokolar-Bewegung verortete, blieb Melitta Burger in jenen 60er-Jahren trotz eines gewissen Befremdens am Ball. Ganz allmählich wuchs sie in einen verbindlichen Weg innerhalb der Fokolar-Bewegung hinein, immer offen, neugierig auf gesellschaftliche Entwicklungen – ihr „Markenzeichen“ bis heute. Dabei ist ihr das verbindliche Miteinander in einer festen Gemeinschaft mit anderen sehr wichtig: „In dieser Gruppe wollen wir dasselbe Ideal leben. Allein geht das nicht. Du lebst im Austausch mit Gleichgesinnten, die dich bestärken.“ Auch wenn es gesundheitlich mal nicht so super läuft, erfährt sie hier Unterstützung.

Ihren letzten Geburtstag hat Melitta Burger gleich fünfmal gefeiert, mit immer anderen Freundeskreisen. Einer besteht aus ehemaligen Angestellten, dem offiziell registrierten „Melitta-Burger-Fanclub“. Das Geheimnis dieser langjährigen Verbundenheit: „Die volle Anerkennung für jeden. Meine Mitarbeiter waren meine Freunde.“ Auch ihre Schwierigkeiten mit einer Kollegin taten dem keinen Abbruch: „Ausgerechnet sie hat bei ihrem Abschied diese Zeit als ihre schönste bezeichnet.“

Seit „ewigen“ Zeiten hat Melitta Burger ein besonderes Steckenpferd, den interreligiösen Dialog. Hier ist sie vielfältig engagiert, besonders in der Münchner Gruppe der weltweiten Bewegung „WCRP-Religions for Peace“. Buddhisten, Bahai, verschiedene muslimische Ausrichtungen und Christen sind mit dabei. Immer wieder stellt sie Themen vor, bringt die Aktivitäten der Gruppe mit den Grundprinzipien des Dialogs in der Fokolar-Bewegung zusammen. Dieses Miteinander ist ihr ganz wichtig. Im Planungsteam engagiert sie sich gern, ist Ideen- und Impulsgeberin. Gerade hat sie wieder zwei neue Projekte im Kopf.

In einem Altenheim hat Melitta Burger sich angemeldet, „mal für alle Fälle“, wie sie sagt. Bislang hat sie aber noch jeden Tag ein volles Programm und weiß die vielen „Farben jeden Tages“, die unterschiedlichen Facetten in Fülle zu genießen. Beneidenswert!
Dietlinde Assmus

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September 2014)
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