17. November 2014

In den Kalender geschrieben

Von nst1

Rainer Hesse hat so manche Lebens-Etappe hinter sich: In der Krankenhausseelsorge, als geistlicher Begleiter eines katholischen Frauenverbandes, als Pastor in mehreren Pfarreien. Nun wechselt er mit 60 Jahren in eine neue Gemeinde. Langsam reicht´s, könnte man in seinem Alter denken. Er freut sich jedoch auf den Neuanfang!

Sie waren 16 Jahre Krankenhausseelsorger? Das ist bestimmt sehr belastend, mit so viel Leid zu tun zu haben!? „Nicht mehr, als bei anderen Aufgaben auch“, antwortet Rainer Hesse auf die halb mitleidige, halb bewundernde Anfrage. „Neben den leidvollen Situationen habe ich auch die frohen Momente im Krankenhaus miterlebt: Patienten, die gesund geworden sind; Eltern, die ein Kind bekommen haben. Und dann die Ärzte, Krankenschwestern, Mitarbeiter im Labor, die Reinigungskräfte: Die haben ja auch ein Leben außerhalb der Arbeitszeit und das ist nicht nur Leid!“

Wie Rainer Hesse sich in jede Aufgabe voll und ganz hineingibt, war er auch Krankenhausseelsorger mit Leib und Seele.

Schon die Abschlussarbeit im Theologiestudium in Bochum hatte er über „das beratende Gespräch in der Seelsorge“ in diesem Bereich geschrieben. Und zwischen Diplom und Eintritt ins Priesterseminar konnte er ein Vierteljahr in einem Krankenhaus in Datteln ein Praktikum machen.

Für seine erste Kaplansstelle – am Stadtrand von Bochum – wollte er jedoch erstmal nichts mit dieser Sonderseelsorge zu tun haben, um als „Anfänger“ ganz das Leben in der Gemeinde kennenlernen und sich auf die Jugendarbeit konzentrieren zu können. Als nach vier Jahren der übliche Wechsel anstand und er gebeten wurde, in die Krankenhausseelsorge nach Duisburg Hamborn zu gehen, war er gern dazu bereit. Sein Vorschlag, sich dafür mit einer speziellen Ausbildung zu qualifizieren, wurde zunächst abgelehnt. Dafür bot man ihm an, zwei Wochen in Paderborn eine Ausbildung in Gesprächsführung mitzumachen, „was für mich ein großes Geschenk war, weil der Professor ein unglaublich reiches Wissen als Pastoralpsychologe hatte.“

Natürlich gibt es auch harte Momente im Alltag eines Klinikseelsorgers. Patienten, die nicht sprechen können und abstoßende Gerüche bringen Rainer Hesse leicht an seine Grenzen.

„Manche Krankheitsbilder sind so belastend, dass ich überlegen muss, wer geht an meiner Stelle zu dem Patienten oder wie mache ich das so, dass ich es gut aushalten kann.“ Zuweilen hat er für den Weg zu einem Patienten fünfzig statt zehn Minuten gebraucht; hat noch mit diesem oder jenem geplaudert: „Da habe ich gemerkt, ich möchte gar nicht hin. Ich ahne, was mich in dem Zimmer erwartet, und davor habe ich Angst.“

Jemanden in schmerzlichen Momenten zu begleiten, ist für Rainer Hesse besonders kostbar. „Dass ich neben jemandem sitzen darf, der gerade Leid erlebt, ist nicht selbstverständlich. Es ist ein Dienst, den ich tue, aber auch ein Geschenk für mich, dass ich ein so schweres Etappenstück mitgehen darf.“ In vielen dieser Begegnungen steckt auch etwas Frohmachendes, sagt er: „Wie jemand ins Sterben hineingeht und darin getragen ist. Wie der Tod für den Sterbenden oft viel weniger schrecklich ist als für die, die am Bett stehen und nichts tun können. Wie jemand sein Stück Glaubensweg weitergeht. Wie das, was ich anbiete, ihm hilft.“

16 Jahre war Rainer Hesse insgesamt im Krankenhausdienst – eine Zeit mit relativ wenig Verwaltungsaufgaben und viel Zeit für Einzelgespräche. „Das hat mir gelegen. Ich bin kein organisierter Mensch, eher ein Chaot.“ Dennoch weiß er genau, wie er seine Ziele erreichen kann. „Ich habe den Mitarbeitern gesagt: ‚Ich möchte nicht, dass mir Leute, die Angst haben, sterben oder schwer krank sind, durch die Lappen gehen.‘ Das kann ich nicht erreichen, wenn ich mir die Patientenlisten ansehe. Dazu muss ich auf den Stationen präsent sein. Dann schicken mich die Schwestern da hin, wo ich hingehöre.“ Das bedeutet dann aber auch, spontan und flexibel zu sein. „Damit gebe ich dem lieben Gott Gelegenheit, in meinem Kalender herumzuschreiben.“

1996 kam die Anfrage, Diözesanpräses der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands kfd im Bistum Essen zu werden. „Ich fand es spannend, dass etwas völlig Neues auf mich zukam, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte.“ Ganz neu war es für ihn nicht, Frauen geistlich zu begleiten. Schon in der ersten Kaplansstelle hatte er einen großen Kreis mit 40 Familien gegründet – darunter viele Ehefrauen und Mütter. Auch im Krankenhaus hatte er viel mit Krankenschwestern und Ärztinnen zu tun.

„Neu war für mich, mit hochqualifizierten und -motivierten Frauen zusammenzuarbeiten, die reden konnten und Anregungen gaben: Die waren einfach klasse.“

Er kam mit der politischen Verbandsarbeit in Berührung; wie Frauen theologische Fragen sehen, fand er sehr bereichernd. Er erinnert sich an die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der geistlichen Begleiterin der kfd, an sehr gut vorbereitete Gottesdienste mit über Tausend Frauen. „Da ist viel mehr Power dahinter als bei einer Messe mit nur 30 Leuten!“

Zu seinen schönsten Erlebnissen aus den sechs Jahren bei der kfd zählt eine Frauenwallfahrt nach Köln. „Das ist eigentlich kein Wallfahrtsort. Aber wir haben ‚Frauen-Orte‘ in der Stadt aufgesucht und am Ende einen Gottesdienst im Dom gefeiert.“ Es war vor allem das gute Zusammenspiel bei der Vorbereitung, das ihm viel gegeben hat: „Ich arbeite gern im Team! Ich bin nicht derjenige, der zieht, ziehe aber gern mit.“

Rainer Hesse hat schon öfter erlebt, dass er im rechten Moment genau dort war, wo er gebraucht wurde.

„Zum Beispiel in der Duisburger Notfallseelsorge: Wenn ich da Bereitschaftswoche habe, werde ich nur selten nachts herausgerufen. Aber dann bin ich ausgerechnet an der Reihe, als es eine Familie trifft, mit der ich schon vor 15 Jahren Kontakt hatte und direkt daran anknüpfen kann. Solche Situationen sind so verblüffend, dass ich denke: Da plant doch noch ein Anderer mit!“

Die letzten neun Jahre hat Rainer Hesse in einer Duisburger Gemeinde gearbeitet. Weil Kollegen starben oder erkrankten, kam zum Aufgabengebiet noch eine andere Pfarrei samt Gemeindemitgliedern hinzu. Sehr schöne Erfahrungen, aber auch große Anstrengungen waren damit verbunden; zwischenmenschliche Verletzungen, weil jemand den Eindruck hatte, zu kurz zu kommen, blieben nicht aus.

Mitte Dezember wird Rainer Hesse in seine neue Pfarrei in Essen-Altenessen eingeführt. „Meine Heimatgemeinde ist nur fünf Kilometer entfernt.“ Als ein etwa gleich alter Kollege von dem Wechsel erfuhr, runzelte er die Stirn: „Ich würde doch jetzt nichts Neues mehr anfangen!“ Rainer Hesse empfindet das anders: „Ich habe zwei Möglichkeiten: Jetzt nochmal in eine neue Gemeinde gehen oder hierbleiben. Wenn ich hierbleibe, befürchte ich jedoch, werde ich bei neuen Ideen der Gemeindemitglieder eher als Bremser wirken, weil ich ‚ ja schon weiß, wie es geht‘ – und das ist keine schöne Perspektive.“ Andererseits: „Etwas Bammel habe ich schon. Denn ich bin nicht mehr so aufnahmefähig wie mit 30.“
Clemens Behr

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2014)
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