11. Dezember 2014

Nicht mehr eingekesselt

Von nst1

Erwin Manegold, in der DDR groß geworden, war 25 Jahre alt, als die Mauer fiel. Heute, mit 50, blickt er zurück, wie die Wende sein Leben verändert hat.

Ein Traum aus seiner Kindheit ist Erwin Manegold in Erinnerung: „Ich stehe auf dem Gipfel eines weißen Berges und richte einen Eispickel in den Himmel.“ Damals wachte der Junge aus Kella, einem kleinen Ort im thüringischen Eichsfeld direkt im Sperrgebiet, eingekesselt von den Grenzanlagen zum Bundesland Hessen, nachts auf und wunderte sich: In der DDR gab es keine Berge mit ewigem Eis! „Ich dachte: ‚Was für ein Quatsch! 500 Meter weiter ist die Grenze, da geht´s nicht rüber!’, habe mich umgedreht und weitergeschlafen.“

September 1983. Erwin Manegold, damals 19, wird plötzlich von der Kriminalpolizei auf das Bürgermeisteramt geholt. Ihm war klar, worum es ging, denn zuvor hatte er im Radio gehört, ein jugendlicher Werkzeugmacher aus der DDR habe beim Werra-Meißner-Kreis die Grenzanlagen überwunden. Die Beschreibung passte auf seinen Freund Frank; noch am Abend zuvor hatten sie mit einigen Kumpels in der Kneipe Doppelkopf gespielt. Von Fluchtplänen hatte Frank allerdings nichts gesagt. „Die haben mich vernommen. ‚Sie haben es doch auch im Hessischen Rundfunk gehört!’ schrie der Kripobeamte. ‚Jetzt weiß ich es von Ihnen. Ich höre kein Westradio’, hab ich geantwortet, weil das ja verboten war. Das hat den Beamten erst recht in Rage gebracht!“ Erwin dachte nach dem Verhör, die Sache wäre damit für ihn erledigt.

Erwin war damals bei der VEB Spielwaren Mechanik Pfaffschwende als Werkzeugmacher in der Lehre. Bald wurde er ins Büro vom Chef gerufen. „Wollen Sie nicht Ihrem Freund schreiben?“, fragte ein Herr von der Stasi. „Ja, klar!“ Dann weigerte sich Erwin aber doch, denn der Herr wollte den Inhalt des Briefs vorgeben. „Ihr werdet schreiben: ‚Warum hast du mich nicht mitgenommen? Es war doch alles geplant.’ Dann fangt ihr den Brief an der Grenze ab und habt meine Willensbekundung zur Republikflucht schriftlich. Nicht mit mir!“ Der Herr von der Stasi wurde still und legte ein Papier zum Unterschreiben auf den Tisch: „Ich, Erwin Manegold, verpflichte mich, mich in der katholischen Kirche über Frank umzuhören und sämtliche Informationen an das Ministerium für Staatssicherheit weiterzuleiten.“ Daneben legte er ein zweites Papier: Den Haftbefehl für Bautzen, das Gefängnis für die Regimegegner, „wegen unterlassener Hilfeleistung der Staatsorgane der Deutschen Demokratischen Republik.“ – „Ich hatte keine große Klappe mehr, habe den Kuli genommen und unterschrieben.“ Aber die nächsten zwei Nächte bekam Erwin kein Auge zu. So vertraute er sich dem katholischen Ortspfarrer an, mit dem er sich gut verstand.

Der Pfarrer rief den Bischof von Erfurt an, der sich an Kardinal Meisner in Berlin wandte. Noch am gleichen Abend erreichte Erwin die Parole: Er solle alles, was ihm passiert ist, so vielen Leuten wie möglich berichten.

Sollte er verschwinden, werde die Geschichte an die UNO und die Bildzeitung im Westen weitergegeben. Meisner werde sich bei Kurt Löffler, dem DDR-Beauftragten für Kirchenfragen, beschweren. Erwin begann, im Ort zu erzählen, was ihm widerfahren war, und schnell stand die Stasi wieder vor der Tür: „Sie sollten mit niemandem darüber sprechen. Unsere Zusammenarbeit ist beendet!“ Erwin war erleichtert.

Sechs Wochen später holte die Polizei ihn jedoch eines Morgens wieder von der Arbeit ab und brachte ihn „wie einen Schwerverbrecher“ zum Volkspolizei-Kreisamt nach Heiligenstadt. Quälende Stunden lang passierte erst mal nichts. Bis er zum Verhör gerufen wurde. Sie wollten ihn in einem Schnellverfahren verurteilen. Da erinnerte sich Erwin an die Abmachung mit dem Pfarrer und warnte: „Wenn ich bis 15 Uhr nicht wieder bei der Arbeit bin, läuft unsere Maschinerie an!“ Eben über Pfarrer, Bischof, Kardinal, Kurt Löffler, die UNO und die Bildzeitung. Sein Gegenüber stutzte und fing an, Fragen über die anderen Lehrlinge zu stellen: Wie sie zur FDJ stehen, dem sozialistischen Jugendverband, zur GST, der Gesellschaft für Sport und Technik, die der vormilitärischen Ausbildung diente. „Fragen Sie die doch selbst!“ Erwin wollte sich nicht noch einmal in den Stasi-Fängen verstricken. „Gegen halb drei kam ein Streifenwagen und fuhr mich mit Blaulicht zurück. Punkt 15 Uhr war ich wieder bei meiner Arbeitsstelle. Von da an hab ich nie wieder Probleme gehabt.“

Am 9. November 1989 leistete Erwin seinen Militärdienst bei der NVA, der Nationalen Volksarmee, nahe Halberstadt. Am nächsten Morgen riss ein Kollege die Zimmertür auf und schrie: „Die Grenzen sind auf!“ – „Und ich, hoch aus dem Bett, sage: ‚Du spinnst ja. Du weiß gar nicht, was das heißt!’ Und hab mich wieder umgedreht.“ Der Kollege schaltete das Radio an, DT64, das DDR-Jugendprogramm, und die berichteten darüber.
Später kam der Kompaniechef zu Erwin: „Genosse Manegold, Sie sind doch am Grenzzaun groß geworden. Sie möchten doch bestimmt wissen, wie es dahinter aussieht! Dann tragen Sie fürs Wochenende mal Urlaub ein!“ Eschwege in Hessen liegt nur sieben Kilometer von Kella entfernt, war bisher jedoch unerreichbar. „Es war super! Endlich mal erleben können, was hinter unseren Bergen ist!“ Die 100 D-Mark „Begrüßungsgeld“, die er sich beim ersten Besuch im Westen abholen konnte, sparte sich Erwin Manegold für eine Romfahrt mit Jugendlichen auf.

Ein Offizier war bei der Weihnachtsfeier nach dem Mauerfall fix und fertig: Er habe ganz auf den Sozialismus gesetzt, von seinen Idealen sei nichts mehr übrig, sein Leben ein Trümmerhaufen. „Ich weiß, wir sollen verzeihen“, sagt Erwin. „Aber das habe ich nicht geschafft. Ich habe gedacht: ‚Das geschieht dir recht!’ Andere Offiziere waren humaner.“ Dieser aber hatte Erwin die ganze Zeit schikaniert, weil er der Einzige in der Kompanie war, der sonntags zum Gottesdienst wollte. Während andere Soldaten alle drei Wochen ein freies Wochenende bekamen, ließ er Erwin nur alle drei Monate gehen und drückte ihm Extra-Dienste auf. „Dass für ihn eine Welt zusammengebrochen war, empfand ich als ausgleichende Gerechtigkeit.“

Im Jahr 2014 hat Erwin seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Er lebt südlich von Augsburg, wo er bald nach der Wende hingezogen war. Über Freunde kam er schnell an einen Job; eine Wohnung zu finden, war schwieriger. Wenn er mit dem Auto von Besuchen in Ostdeutschland wieder in den Süden fährt, denkt er hinter dem Hermsdorfer Kreuz an die Schilder von damals: Letzte Ausfahrt Schleiz, Autobahn verlassen! „Das ist immer noch drin im Kopf.“

Ist Deutschland nun eins, 25 Jahre nach der Wende?

„Einerseits würde ich sagen, nein! Aber wenn ich mein Leben sehe, sage ich ja: Ich bin integriert; bei den Arbeitskollegen war ich von Anfang an akzeptiert. Es kommt vor, dass mich einer mal mit ‚Ossi’ anspricht, um mich zu necken, aber das ist auch alles.“
Einmal hat Erwin bei einem Heimatbesuch den Typ von der Stasi wiedergesehen, der ihn zu DDR-Zeiten verhört hatte. „Ich habe ihn nicht mehr losgelassen mit meinen Augen. Aber er hat sich abgewandt, dem Blick nicht standgehalten; hatte wohl ein schlechtes Gewissen.“
Seitdem Erwin in Süddeutschland ist, geht er gern in den Alpen Skifahren und auf Berg-Touren. 1997 stand er mit einem Freund auf dem schneebedeckten Mont Blanc und streckte freudestrahlend seinen Eispickel in die Höhe.
Clemens Behr

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Dezember 2014)
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