11. Juni 2015

Tiefenbohrungen im Alltag

Von nst1

Unsere schnelllebige Zeit, die vielen Termine, die zahlreichen Ablenkungen und Abwechslungen, wo lassen die uns Zeit und Raum zum Beten?  Einen Zeit-Raum für Gott zu finden, ist viel schwieriger und scheint manchmal unmöglich. Mit dem ihr eigenen Realismus erkannte das bereits die französische Christin Madeleine Delbrêl (1904–1964). „Mystikerin der Straße“ wird sie genannt, weil sie ihren Alltag mit seinen Aufgaben und Pflichten in inniger Verbundenheit mit Gott lebte. Auszüge aus einem Buch. 1)

Madeleines Einsatz für die Menschen, für ihre sozialen wie geistlichen Bedürfnisse, kostet Zeit und Kraft. Dafür braucht sie Stärkung und Nahrung, auch innere Nahrung. Sie braucht allen Schwierigkeiten zum Trotz die Verbindung mit Gott im Gebet. „Not macht erfinderisch“ – das wissen wir alle, und Madeleine hat eine besonders große Erfindungsgabe. Sie bringt einen originellen Vergleich:

„Als man zum Unterhalt des Feuers noch Holz brauchte, hätte ein Stückchen Wald nicht ausgereicht; es bedurfte ausgedehnter Waldungen. Und auch als die Kohle aufkam, behielt der Raum seine Geltung: Die Länge und Anzahl der Stollen in den Bergwerken zeugen davon.

Aber nun taucht mit neuen Brennstoffen, die man nicht mehr durch Anpflanzung oder Ausnutzung weiter Räume, sondern durch Tiefenrekorde, durch Bohrungen gewinnt, ein neuer Bewertungsmaßstab auf. Was den Raum angeht, ist nichts anspruchsloser als eine Bohrung“ (Gebet 61f).

Madeleine spricht von einer „Tiefenbohrung“. Dabei kommt es nicht auf die investierte Zeit an, sondern auf die Intensität bzw. Innigkeit.

Diese „Blitz-Hinwendung zu Gott“ (Gebet 83), das rasche Untertauchen in Gott im Lauf des Tages“ (Gebet 84), ist jederzeit möglich. Doch so ganz ohne Vorbereitung wird es nicht gehen; realistisch erklärt sie:

Die Zeit nützen – das lässt sich nicht improvisieren: Man sollte nicht vergessen, dass Bohrungen nicht improvisiert werden … Um in unserem Leben zu bohren, um darin Gebetsschächte einzurichten, muss man im Voraus die spärlich verfügbaren Räume ausfindig machen, die dafür günstigsten Augenblicke aufspüren …“ (Gebet 83).

Diese „Leerräume“ sind zu entdecken, gegebenenfalls auch zu schaffen, in der Frühe des Morgens etwa, aber auch immer wieder einmal im Tageslauf:

„Man wird klar und vernünftig überlegen müssen, ob es unserer Gesundheit ernstlich schadet, wenn man fünf Minuten früher aufsteht, um den Tag mit Gott zu beginnen – wie stumpfsinnig, schlaftrunken oder denkunfähig wir dann auch sein mögen. Ob es wirklich eine Verletzung der Liebe ist, jemanden einige Minuten warten zu lassen. Ob eine dringende geistige Arbeit tatsächlich leiden würde, wenn wir ihr fünf Minuten entziehen (um an Gott zu denken), bevor wir uns daransetzen. Ob die Dringlichkeit des Besens oder der Waschmaschine nicht ein paar Momente des Wartens verträgt, um uns Beten zu erlauben; genauso wie sie es vertragen würde, wenn jemand uns rasch etwas sagen käme … oder wenn das Telefon klingeln würde usw.“ (Gebet 83).

1) Aus: Rosemarie Nürnberger, Anders beten, Impulse von Madeleine Delbrêl, Verlag Neue Stadt 2015

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2015)
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