11. Juni 2015

Für verschärften Dialog

Von nst1

Wie der zunehmenden extremistischen Gewalt Herr werden?  Auch wenn viele Bischöfe, Rabbiner und Imame betonen, Religion könne niemals Grund für Krieg sein, führen Terroristen doch häufig religiöse Motive für ihre Taten ins Feld. Auf der Suche nach Lösungen besinnen sich die Vereinten Nationen auf das Friedenspotential der Religionen und suchen erstmals den Schulterschluss mit ihren Vertretern.

„Müsste die UNO nicht ihr Selbstverständnis überdenken, ihre grundlegende Mission neu formulieren?“ Maria Voce, Präsidentin der Fokolar-Bewegung, hat in ihrer Ansprache im New Yorker Glaspalast unbequeme Fragen an die internationale Organisation gerichtet. „Was bedeutet es heute, Organisation der ‚Vereinten Nationen’ zu sein, wenn nicht vor allem, sich für die Einheit der Nationen einzusetzen und dabei gleichzeitig den Reichtum der Identitäten der einzelnen Völker zu wahren?“ Sicherheit sei unverzichtbar, aber noch nicht gleichbedeutend mit Frieden. Aufgrund der bestehenden Konflikte, tiefen Zerwürfnisse und sozialen Ungerechtigkeiten rief Maria Voce zu einer Kehrtwende in der globalen Ordnungspolitik auf.

Die 77-Jährige war die einzige Frau unter fünfzehn Religionsvertretern, die am 21. und 22. April am Stammsitz der Vereinten Nationen eine Rede hielten. Der Präsident der UN-Generalversammlung Sam Kutesa, UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon und Nassir Abdulaziz al-Nasser, der Hohe Repräsentant der UN-Initiative „Allianz der Zivilisationen“, hatten sie zu einer Debatte eingeladen zum Thema „Toleranz und Versöhnung fördern: friedfertige, offene Gesellschaften unterstützen und gewaltsamen Extremismus bekämpfen“: zum ersten Mal in der 70-jährigen Geschichte der Organisation, in der 193 Nationen vertreten sind. „Wir haben Sie zusammengerufen, weil wir über die Ausbreitung von Extremismus und Radikalismus zutiefst beunruhigt sind“, sagte Ban Ki-Moon in seiner Eröffnungsansprache. Sorgen machten ihm die fehlende Empathie, fügte er später hinzu, und dass die Gefühllosigkeit zunehme, wenn Menschen immer mehr Zeugen von Gräueltaten werden.

Nach erfolglosen Versuchen, die Herausforderungen extremistischer Gewalt allein über politische Gremien anzugehen, ist die UN auf der Suche nach einer umfassenderen Perspektive. Mit der Debatte wollte sie ausloten, welchen Beitrag die Religionsgemeinschaften dazu leisten können. Am ersten Tag nahmen auch Minister und Botschafter aus dem Irak, Japan, Jordanien, Kasachstan, Mali, Panama, Spanien, Türkei und Uganda daran teil.

„Ein Verbrechen im Namen der Religion ist das größte Verbrechen an der Religion“,

formulierte Rabbi Arthur Schneier, einer der Mitbegründer der „Allianz der Zivilisationen“. Eine Auffassung, die bei den anwesenden Muslimen, Juden, Hindus, Sikhs, Buddhisten und Christen verschiedener Denominationen Widerhall fand. Die Redner waren sich einig, dass Religionen zum Aufbau des Friedens beitragen und von bloßer Toleranz hin zu gegenseitiger Akzeptanz gelangen sollten. Sie stellten Beispiele dafür vor, dass in vielen Teilen der Erde schon Menschen Tag für Tag dementsprechend leben.

Maria Voce verwies auf die Erfahrung der Fokolar-Bewegung mit der Begegnung zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen und Religionen:

„Sie beschränkt sich nicht auf das simple Anerkennen der Verschiedenheit. Diese Begegnung geht über die – wenn auch grundlegende – Versöhnung hinaus und schafft eine neue, offene, gemeinsame und verbindende Identität.“

Dialog als Begegnung zwischen Menschen unterschiedlichster – auch nichtreligiöser – Überzeugungen: den brächten Menschen selbst in aktuellen Krisensituationen wie in Algerien, Syrien, dem Irak und dem Libanon, Nigeria, der Demokratischen Republik Kongo und den Philippinen voran. “Dieser Dialog drängt uns, konkrete Bedürfnisse in den Blick zu nehmen, Antworten zu finden auf die schwierigen Herausforderungen im sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Bereich und uns einzusetzen für ein vereintes und solidarischeres Zusammenleben der Menschen.“

Die Fokolar-Präsidentin forderte einen – wohlverstandenen – „Extremismus des Dialogs“. Der Extremismus der Gewalt verlange nach einer Antwort, einem Gegengewicht von ähnlicher Radikalität: einem „extremen“ Dialog im Sinn von maximalem Engagement, das den Menschen ganz fordert und herausfordert, auch Risiken auf sich nimmt und die Wurzeln des Missverständnisses, der Angst und der Abneigung durchtrennt.

Rabbi David Rosen aus Israel ging der Frage nach, warum so viele junge Leute vom IS angezogen sind und in Syrien in den Krieg ziehen: „Sie suchen nach einer Identität, einer Bedeutung und einem Ziel für ihr Leben.“ Um auf dieses Bedürfnis junger Menschen zu reagieren und zu vermeiden, dass sie dem IS in die Falle gehen, müsse man Gastfreundschaft üben: „Jede religiöse Gemeinschaft sollte ihnen das Gefühl vermitteln, dass sie willkommen sind. Wir sollten die Stimmen, die alle mit einschließen, sichtbar machen.“

Religionen stehen in der Gefahr, instrumentalisiert zu werden. Die „Goldene Regel“ könne die Basis sein, die alle Religionen eint und auf der die Idee der einen weltweiten Menschheitsfamilie gedeiht: Was ihr von den anderen erwartet, das tut auch ihnen. Der anglikanische Erzbischof von York, John Sentamu, lud alle Teilnehmer ein, aufzustehen, sich ihrem Nachbarn zuzuwenden und ihm zu sagen: „Ich kann ohne dich nicht leben.“ Das brachte die Anwesenden zum Schmunzeln und machte deutlich, wie der erste Schritt aufeinander zu aussehen kann.

Die Debatte war ein Novum für die UN-Generalversammlung. „Normalerweise wird Gott in den Vereinten Nationen nicht erwähnt“, bemerkte dementsprechend Rabbi Arthur Schneier. „Wie können wir mit dem Problem umgehen, dass die UNO neutral zu sein hat – wenn fünf der sieben Milliarden Menschen einer Religion angehören?“ Für Bhai Sahib Mohinder Singh, geistlicher Führer der Sikhs in Birmingham, gilt: „Gott ist überall gegenwärtig, in jedem von uns; daher kann man nicht sagen, er sei nicht hier.“ – „Wir sprechen von Gott, wenn wir über Gerechtigkeit reden, das Teilen der Güter der Erde, nachhaltige Entwicklung“, warf Maria Voce ein. „Wenn wir darüber nachdenken, was wir den künftigen Generationen hinterlassen, dann sprechen wir von Gott. Man muss nicht abstrakt von ihm reden.“

Zwei Tage der Vorträge, des Zuhörens und Aufeinander-Reagierens, der Begegnung auf höchster Ebene: aber mit welchem Ergebnis? UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon schwebt vor, ein Beratungsgremium mit führenden Vertretern der Weltreligionen einzurichten, das den Vereinten Nationen auf der Suche nach Konfliktlösungen zur Seite steht. Patrick Ho, stellvertretender Vorsitzender des China Energy Fund Committees, brachte in seinem Statement eine der zentralen Botschaften auf den Punkt: „Liebt einander“, und folglich: „Das Land des anderen wie unser eigenes lieben.“

Die BBC-Journalistin Laura Trevelyan, die die Debatte am Nachmittag des zweiten Tages moderierte, wollte von den Teilnehmern abschließend eine Selbstverpflichtung hören.

„Wenn ich nach Hause zurückkehre, werde ich besonders die Aktionen der Jugendlichen und Kinder unterstützen, denn ich glaube an ihre prophetische Kraft“, versprach Maria Voce.

Wie um ihr Ansinnen zu unterstreichen, überließ sie dem 25-jährigen Ermanno Perotti das Mikrofon. Der italienische Wirtschaftsstudent stellte das „United World Project“ mit einem „Atlas“ vor, der zahlreiche Projekte in allen Teilen der Welt aufführt. Sie haben eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, Generationen und sozialen Schichten zum Ziel. Maria Voce ergänzte den Wunsch, „eines Tages den Vereinten Nationen diese Sammlung kleiner konkreter Taten der Liebe unseren Nächsten gegenüber vorstellen zu können“ als ein Zeugnis dessen, was machbar ist.

Seitens der Fokolar-Bewegung hat eine internationale Gruppe junger Leute zwischen 20 und 30 Jahren als Beobachter der UN-Debatte beigewohnt. „Es hat sich gezeigt, dass alle Religionen letztlich das gleiche Ziel haben: Liebe. Unsere Liebe darf nicht nur denen gelten, bei denen es leicht ist, sondern muss sich an alle Menschen wenden“, kommentierte die Brasilianerin Paola Martins. „Das sich gegenseitig Annehmen drückt sich nicht nur aus, wenn wir über religiöse Dinge reden, sondern in allem, was wir tun.“ – „Unsere Rolle als Jugendliche ist enorm“, hat Marco Forcini aus Italien erkannt: „Wir müssen die Welt verändern. Wir dürfen Hass, Gewalt und Rassismus nicht akzeptieren. Wir müssen das Volk des Friedens sein. Daher gibt es nach zwei vollen Tagen des Redens eine ganz praktische Aufgabe für uns: die Worte Wirklichkeit werden zu lassen!“
Susanne Janssen (Living City, USA), Clemens Behr

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2015)
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