16. Oktober 2015

Beziehungen schaffen Heimat

Von nst1

Die Bilder von überfüllten Zügen und Aufnahmelagern sowie Menschen, die seit Wochen zu Fuß unterwegs sind, machen Eindruck. Genauso beeindruckend sind aber auch die Bilder der Hilfsbereitschaft: Gemeinden, Institutionen, Vereine, Familien, Jugendliche und Senioren empfangen Flüchtlinge, stehen ihnen zur Seite und gehen dabei manchmal bis an ihre Grenzen.  In Österreich setzen sich vielerorts schon seit Monaten auch Angehörige der Fokolar-Bewegung aus dem Geist der Geschwisterlichkeit für Flüchtlinge ein. Was sie leitet, was sie erleben und was ihnen besonders am Herzen liegt – am Beispiel der Fokolargemeinschaft in Wien. 

Oft beginnt es mit einem „Zufall“, aber immer über persönliche Beziehungen: In Wien war es die Einladung zur Familie des syrisch-orthodoxen Bischofsvikars. „Dabei erfuhren wir Ende 2013“, so Anni Lechner, „dass die Gemeinde sich bereit erklärt hatte, Flüchtlinge aufzunehmen. Plötzlich war das Leid dieses Volkes ganz nah!“ Und es war „logisch“, sich gemeinsam mit den syrischen Freunden der Not ihres Volkes zu stellen, ergänzt Angelika Bacher.

Fußballturnier: Der gemeinsame Einsatz setzt Energie frei.

Fußballturnier: Der gemeinsame Einsatz setzt Energie frei.

Wenn man sich begegnet, kann man nicht gleichgültig bleiben. Das ist auch die Erfahrung von Erich Voboril aus Mödling, einer Kleinstadt südwestlich von Wien. Über eine Mail hatte er im Januar 2014 von den erwarteten Syrern erfahren. Als er einen Wohnzimmertisch anbot, bekam er die Telefonnummer einer Familie. Bei der „Lieferung“ des Tisches kam Voboril bei Kaffee und Kuchen mit ihnen in „ein sehr offenes Gespräch über ihre Vergangenheit und ihre Hoffnung für eine Zukunft bei uns in Österreich“. Er erfuhr, dass der syrische Familienvater Klimatechniker im eigenen Betrieb gewesen war, und der 12-jährige Sohn erzählte, wie „Männer mit Bärten“ sie gezwungen hatten, ihr Haus von einer Minute auf die andere zu verlassen, bevor sie es in die Luft sprengten. „Die Flüchtlinge brauchen uns“, ist Voboril überzeugt. „Auch für sie sind wir Fremde. Im Aufeinander-Zugehen, Zuhören, Nach-Lösungen-für-Alltagsprobleme-Suchen, erleben wir Offenheit, Vertrauen, Freundschaft.“

Nach einem Benefizkonzert.   (Fotos: privat)

Nach einem Benefizkonzert. (Fotos: privat)

Dass das ein Abenteuer ist und nur begrenzt planbar, wird immer wieder deutlich. So erzählt Maria Watzl: „Wir wussten nicht, wo anpacken. Zuerst die Wohnungssuche. Kein leichtes Unterfangen. Sie sind teuer und noch immer gibt es viele Vorbehalte gegenüber Ausländern.“ Schließlich fanden sie Platz im Marianneum in Hetzendorf im 12. Bezirk. Das Bildungshaus stand vor einer Grundsanierung und „es fehlte an allem!“ In einer Rundmail an Freunde und Bekannte baten die Fokolare um Unterstützung. Eine Welle des Gebens und Helfens begann. „So malten wir mit syrischen Familien die Wohnungen aus, brachten Möbel und alles Übrige.“
Der gemeinsame Einsatz setzt Energie und Fantasie frei. Jugendliche organisierten ein Konzert und gaben den Erlös für die Flüchtlinge. 1) Ein Friedensfest schenkte nicht nur Kindern von vier bis neun Jahren einige entspannte Stunden. Auch ihre Eltern blieben „zum Kaffeeplausch“; so wurden Lebensgeschichten geteilt und Telefonnummern ausgetauscht. Aus dem wöchentlichen gemeinsamen Kicken einiger österreichischer Väter mit syrischen Buben und Männern entstand ein großes Benefiz-Fußballturnier mit Mannschaften verschiedener Nationen.

Friedensfest in bunten Farben

Friedensfest in bunten Farben

Bis heute staunt die Gemeinschaft in Wien über die greifbare und alle ergreifende Erfahrung der fürsorgenden Liebe Gottes: „Prompt und passend treffen die benötigten Dinge ein!“ Sogar das Kinderbett für den neun Monate alten Antonio und ein Teddybär. – „Ich hatte gerade Jesus gebeten, mir zu zeigen, was zu tun ist“, schreibt jemand in einer Mail. „Da kam ein Anruf: ‚Ich bin Sam. Erinnern Sie sich? Wir kamen vor einem Jahr und Sie hatten alles für uns vorbereitet. Nun müssen wir noch diese Woche übersiedeln. Für die Eltern haben wir ein Bett gekauft, aber mehr können wir uns nicht leisten! Wir brauchen noch drei.’ Drei Betten, schießt es mir durch den Kopf. Gerade vor einigen Tagen hatte mir ein Flüchtling gesagt, dass er drei übrig hatte. Mit Sams Familie gingen wir sie anschauen. Als Draufgabe gab es noch verschiedenen Hausrat!“ – „Eines Tages wurde das Geschirr, das für eine Familie bereit stand, von einer anderen benötigt. Ich bat den Himmel, uns das Nötige zu schicken. Dann ein Anruf: ‚Ich kann ein neues, komplettes Speiseservice zur Verfügung stellen!’ Wir besuchten die Anruferin und es kam zu einem tiefen Gespräch. ‚Wenn man wirklich helfen will, muss das, was man gibt, wehtun!’, rief sie uns später über das Stiegenhaus nochmals zurück. Von ihrem kürzlich verstorbenen Mann hatte sie eine Lederjacke. Es war genau die Größe, die wir für einen Herrn brauchten!“ – „Es ist beeindruckend: heute 20 Betten von einem Hotel und am nächsten Tag von ganz woanders 19 Matratzen.“

Wenn sie anfangen, können sie kaum aufhören: Tische, Stühle, Garderobe, Schuhe, Wäsche, Kleiderkästen, ein Fahrrad, Kochgeschirr, Pfannen, Mixer, Wasserkocher, Essgeschirr und Besteck, Haushaltsgeräte, Schulsachen, Spielzeug.

Die Gemeinschaft scheint wie ein Umschlagplatz, hier kommen Anfragen an und es melden sich Menschen, die etwas übrig haben. „Soweit es möglich ist, bringen die Leute die Sachen direkt zu den Familien. So hat sich in diesen Tagen eine österreichische mit einer syrischen Mutter gefunden und sie haben schon einen nächsten Treffpunkt ausgemacht!“

Kulinarische Beiträge zur gemeinsamen Feier

Kulinarische Beiträge zur gemeinsamen Feier

Es geht ihnen nicht um Almosen, „sondern um Gegenseitigkeit.“ So freuen sich die syrischen Freunde über Besuche und darüber, alles Erlebte erzählen zu können. „Aber sie fragen auch nach, wollen wissen, wer wir sind. So konnten wir von unserem Traum der universellen Geschwisterlichkeit erzählen. Seitdem ist unsere Beziehung noch herzlicher geworden und wir merken, dass sie über die konkrete Hilfe hinaus vor allem danach suchen.“
Die Würde achten, ist ein weiteres Stichwort, das beständig mitschwingt. „Es war nicht leicht für sie, persönliche Dinge anzunehmen.“ So erzählte eine Syrerin, nachdem sie einen Pullover in einem Lager gefunden hatte, dass sie ein schönes Haus gehabt hatten, das nun zerbombt war. Ihr Mann war Chefarzt und – „jetzt sind wir Flüchtlinge!“ Als jemand ihr daraufhin von seiner Überzeugung erzählte, „dass wir alle Kinder eines Vaters sind, der die Erde für alle gemacht hat, kam ein Lächeln über ihr Gesicht und ich bekam eine ganz feste Umarmung.“

“Wann ist das Stockbrot fertig?”

Trotz aller Not – so die Wiener Fokolare – liegt über den Begegnungen häufig „eine Festtagsstimmung“. „Ich denke, sie spüren die Liebe“, versucht Maria Watzl sich das zu erklären. In der Atmosphäre der Geschwisterlichkeit kommt vieles ans Licht: „Einmal begann eine junge Mutter über ihre Eindrücke zu sprechen, die vielen Einzelkinder und Alleinerziehenden, die Hektik und dass es ihr gefallen habe, das glückliche, liebevolle Paar zu erleben, das ihnen ein paar Dinge gebracht hatte!“
Ein anderes Mal erzählte Marwa, dass ihr nur zwei Prüfungen fehlten. Wegen des Krieges hatte sie ihr Wirtschaftsstudium nicht abschließen können. Jetzt musste sie ganz von vorne beginnen. „Wir boten jeden Freitag von 16 bis 18 Uhr einen Deutschkurs für jene an, die noch keinen offiziellen Kurs besuchten, und lernen jetzt mit Frauen, die wegen der Kinder nicht hin können.“

Wie viele sich für die Flüchtlinge einsetzen, können sie kaum sagen. „Es ist wie ein Domino-Effekt. Jemand fühlt sich angesprochen, tut etwas und zieht andere mit.“

Oft – so ihre Erfahrung – geht es nur darum, die vorhandenen Bedürfnisse auszusprechen und in Umlauf zu bringen: „Einmal war es ganz kurios“, so Maria Watzl. „In der U-Bahn kam ich einmal mit einer unbekannten Frau ins Gespräch. Dabei erzählte ich auch von den Flüchtlingen. Sie bot sofort an, mitzumachen! Jetzt engagiert sie sich bei den Deutsch-Kursen.“

"Es geht nicht um Almosen, sondern um Beziehung."

“Es geht nicht um Almosen, sondern um Beziehung.”

Eine Flüchtlingsfamilie mit zwei Kleinkindern hatte erst seit kurzem eine 3-Zimmer-Wohnung. „Wir haben ihnen geholfen, sie auszustatten. So war eine Beziehung entstanden.“ Eines Tages riefen sie an. Es war ihnen gelungen, die Aufnahme für einen vom Terror gefährdeten Arbeitskollegen mit seiner Familie zu erwirken. Nun wollten sie ihn in ihre Wohnung aufnehmen und funktionierten diese mit viel Sorgfalt für acht Personen um. „Andere hatten gefragt, wieso sie das machen. In ihrer Kultur mache man so etwas nur für Verwandte. Sie hatten geantwortet, dass sie von uns gelernt hatten, allen zu helfen und durch unsere Freundschaft neue Hoffnung und Mut bekommen hatten.“
Beziehungen schaffen Heimat. Davon sind Maria Watzl und die anderen der Fokolar-Bewegung in Wien nach diesen letzten Monaten überzeugt. Und weil sie erfahren haben, dass sie nicht nur mit den eigenen Kräfte rechnen brauchen, schauen sie zuversichtlich in die Zukunft: „Der Weg zeigt sich Schritt für Schritt. Wir müssen uns nur führen lassen.“
Gabi Ballweg

1) Ein weiteres findet am 6. November, 19 Uhr, in der Jugendkirche statt, organisiert von Jugendlichen der Fokolar-Bewgung, der syrisch-orthodoxen Gemeinde und der Jugendkirche.

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Oktober 2015)
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