16. Oktober 2015

Ein Herz für Flüchtende

Von nst1

Offener Brief an Angela Merkel, deutsche Bundeskanzlerin 

Sehr geehrte Frau Merkel,

ein Europa, das sich gegen Flüchtende abschottet, ist nicht mein Europa! So stand ich voll dahinter, als Sie signalisierten, die Menschen nach Deutschland zu lassen, die auf ihrer Flucht in Ungarn festsaßen. Ebenso fand ich mich in Ihrem Ausruf wieder: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“
Aber: Es hatte lange gedauert, bis Sie die Flüchtlingsfrage zur Chefsache erklärt und sich so klar positioniert haben! Viele freiwillige Helfer hatten die Flüchtlinge schon willkommen geheißen, schon hilfsbereit und großzügig reagiert, als Staat und Behörden noch nicht in die Gänge gekommen waren.
Die Einführung von Grenzkontrollen, nachdem Ungarn seine EU-Außengrenze zu Serbien zu schließen begann, wirkte dann wie ein Zurückrudern. Ein Versuch, den Draht nach Osteuropa nicht zu verlieren? Das Bemühen, CSU und Flüchtlings-„Skeptikern“ entgegenzukommen? Ich habe durchaus Verständnis für Grenzkontrollen, zumindest so lange so viele die Grenzen überqueren. Unser Staat sollte wissen, wer kommt. Deswegen zu sagen, Schengen sei gescheitert, halte ich für übertrieben. Allerdings sollten Kontrollen die Ausnahme bleiben.

Schon lange gescheitert ist hingegen eine europäische Asylpolitik. Und der Umgang mit der jetzigen Welle von Flüchtenden zeigt, dass die in der EU viel beschworenen gemeinsamen Werte noch lange nicht zu einem gemeinsamen Handeln führen müssen.

Sofern es christliche Werte sind, werden sie offenbar unterschiedlich verstanden. Von Solidarität untereinander ist nicht viel zu sehen. Dabei steht Europa beispielsweise neben dem Libanon, der bei knapp sechs Millionen Einwohnern über eine Million Flüchtlinge im Land hat, wahrlich erbärmlich da!
Auf der anderen Seite ist klar, dass auch Österreich und Deutschland irgendwann an ihre Belastungsgrenzen kommen. Sicher ist, dass die Flüchtenden uns noch auf Jahre beschäftigen und unsere Gesellschaft verändern werden. „Wir können es schaffen“, sagen Sie. Davon bin auch ich überzeugt. Aber nur, wenn wir viele Kräfte mobilisieren, wenn Freiwillige und Behörden Hand in Hand arbeiten, wenn wir es schaffen, den Bürgern die auch vorhandenen Ängste zu nehmen: vor Überfremdung, vor islamischer Missionierung, davor, zu kurz zu kommen.
Ihre Flüchtlingspolitik darf sich nicht nur von aktuellen Entwicklungen treiben lassen. Es braucht dringend ein längerfristiges Denken. Nicht nur, was Aufnahme, Unterbringung, Bildung und Integration, sondern auch, was die Flucht-Ursachen angeht: Der schwer zu durchschauende Krieg in Syrien, der IS-Terror, die himmelschreienden Ungerechtigkeiten in afrikanischen Ländern, für die oft ein ausbeuterisches westliches Wirtschaften mitverantwortlich ist.
Sie haben den Flüchtlingen das menschliche Gesicht der Politik gezeigt. Sorgen Sie nun auch mit für eine Verringerung des Waffenhandels! Engagieren Sie sich mit Ihrer Regierung mit neuem Elan für Befriedung, für bessere ökonomische und soziale Verhältnisse in den Herkunftsländern! Schmieden Sie Allianzen, um gemeinsam Lösungen zu finden und Strategien zu entwickeln! Das ist ein langer Weg. Die Probleme sind komplex. Aber sie müssen angegangen werden. Nicht nur, damit die Flüchtlinge irgendwann zurück in ihre Heimat können. Sondern um künftig überhaupt ein gleichberechtigtes Leben aller Völker auf unserem Planeten zu ermöglichen.

Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr
Redaktion NEUE STADT

Unser offener Brief wendet sich an Angela Merkel (61), seit November 2005 Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland.

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Oktober 2015)
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