19. November 2015

Mutige Rede vor der UNO

Von nst1

Offener Brief an Simonetta Sommaruga, Schweizer Bundespräsidentin

Sehr geehrte Frau Sommaruga,

sind wir UNO? „Wir sind Papst“, „Du bist Deutschland“, „Wir sind das Volk“: Schlagzeilen, Kampagnen, Parolen, die mir als Deutschem schnell einfallen – Versuche, Zugehörigkeit, Identität und Wir-Gefühl auszudrücken, zu stärken oder zu schaffen. Aber würde ich „Wir sind UNO!“ sagen? Ihre Rede Ende September vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen anlässlich ihres 70-jährigen Bestehens zeigt, dass Ihnen die UNO am Herzen liegt. Sie identifizieren sich mit ihr, glauben an ihre Reformfähigkeit und sind bereit, selbst daran mitzuwirken.

Wie leicht denke ich, die Vereinten Nationen sind zwar eine tolle Idee, aber leider ein Riesenapparat, der in die Jahre gekommen ist und sich verrannt hat: Die Staaten ziehen nur selten am gleichen Strang, weil sie eigene Interessen verfolgen und wenige Mächte die wirklich wichtigen Entscheidungen blockieren: Wem nützt die UNO noch?

Sie benennen Erfolge wie den Erhalt des Friedens und die Verringerung der Armut, legen aber auch den Finger in die Wunden: Dass fast 120 000 UN-Mitarbeiter in der Friedenssicherung eingesetzt sind, zeigt, dass es zu viele Kriege gibt. Wohlstand ist ungerecht verteilt, Korruption weit verbreitet, Wachstum und Fortschritt gehen immer noch auf Kosten der Umwelt. Sie decken Widersprüche auf: Noch nie gab es so viele Flüchtlinge wie heute, dennoch finden die Nationen keine gemeinsamen Lösungen! Sie sind überzeugt: „Wenn jeder nur für sich schaut, verlieren am Schluss alle.“ Auch Armut, Terrorismus, organisiertes Verbrechen und Klimawandel sind Herausforderungen, die ein gemeinsames Handeln erfordern, schreiben Sie den Regierungen ins Stammbuch: „Wenn wir es versäumen, die menschliche Würde zu schützen, hintergehen wir uns selber, denn wer seine Werte verrät, verrät sich selber.“
Ihr Fazit: die UNO stärken, um die globalen Probleme angehen zu können. Ihre Vision dafür: das System humanitärer Hilfe, das an seine Grenzen stößt, auf den Prüfstand stellen und effektiver machen; Verwaltung und Struktur der UNO reformieren; den Menschenrechten noch mehr Gewicht einräumen. Und bezogen auf das Friedensengagement: Die UNO sollte keinen Einsatz ohne eine auf die Situation zugeschnittene nachhaltige politische Strategie angehen; mehr auf die Prävention von Konflikten setzen, um Spannungen früh zu erkennen und gewaltsame Konflikte gar nicht erst ausbrechen zu lassen; Frauen stärker in Friedensbemühungen einbeziehen, damit sie einschneidender wirken.
Viele Staatschefs, die sich ans Rednerpult der UNO stellen, zielen mit ihrer Rhetorik auf ihre Bürger zu Hause, um für die nächsten Wahlen zu punkten. Sie haben die Regierungschefs direkt angesprochen, aber mit der Wir-Form gezeigt, dass Sie sich und die Schweiz genauso meinen. Sie haben die UNO „kritisch gewürdigt“: das Erreichte hervorgehoben, aber auch klar die Schwächen aufgezeigt und den Reformbedarf angemahnt. Das war dringend nötig. Das ist couragiert. Darauf können die Schweizer stolz sein.
Ihr Auftritt hat – sicher nicht nur bei mir – die Hoffnung auf eine Erneuerung der UNO wiederbelebt und neue Begeisterung für ihre Ursprungsidee geweckt: eine weltweite Gemeinschaft, die die internationale Zusammenarbeit fördert und den Weltfrieden sichert, weil sie Werten wie der Gerechtigkeit, der Menschenwürde und den Menschenrechten verpflichtet ist.

Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr
Redaktion NEUE STADT

Unser offener Brief wendet sich an Simonetta Sommaruga (55), für die Dauer des Jahres 2015 Bundespräsidentin der Schweiz. Im Jahr zuvor war sie Vizepräsidentin. Seit Ende 2010 ist die Sozialdemokratin Bundesrätin und Justizministerin.

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2015)
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