21. April 2016

Wenn die Empathie fehlt

Von nst1

Wie sieht die Psychologie Barmherzigkeit?

Barmherzigkeit ist sowohl eine Charaktereigenschaft als auch eine Bereitschaft zu handeln. Die Psychologie spricht eher von Altruismus, prosozialem Handeln, Gemeinschaftsgefühl und vor allem von Empathie. Diese hat einen affektiven und einen intellektuellen Teil und ist eine Erfahrung, mit der wir unmittelbar die Emotion und Absicht eines anderen ganzheitlich erfassen, bis dahin, ähnlich zu fühlen wie der andere. Besondere Nervenzellen, die Spiegelneuronen, befähigen uns dazu. Wenn wir eine liebevolle Erziehung erfahren, entsteht daraus die Gabe, „mit den Augen des anderen zu sehen, mit den Ohren des anderen zu hören und mit dem Herzen des anderen zu fühlen“ (Alfred Adler). Keine andauernde Identifikation mit dem anderen ist gemeint – das wäre psychisch bedenklich – vielmehr, „in eines anderen Menschen Schuhe zu steigen und genauso leicht in die eigenen zurück“ (N. Blackman).

Empathie kann sich auch rückentwickeln, das Mitgefühl mit den Schwachen einer Gesellschaft verneint werden und stattdessen eine Identifizierung mit dem Starken entstehen. Arno Gruen meint: „Wenn ein Mensch seinen eigenen Schmerz nicht erleben darf und kann, weil er dazu angehalten wurde, ihn als schwach abzutun, wird er ihn in anderen Menschen suchen müssen.“ Demnach wird Empathie durch negative (Lern-)Erfahrungen nicht einfach ausgeschaltet, sondern im schlimmsten Fall durch Narzissmus, falsche Moral oder Sadismus ersetzt. Jemand wechselt auf die Seite des „Überlegenen“, weil er nicht in der Opferrolle des Unverstandenen bleiben will.

Für den mitmenschlichen Umgang und die Einstellung zu sich selbst wird damit klar, dass wir alles daransetzen sollen, die Einfühlungsgabe zu beschützen und zu fördern. Sie macht das Menschsein aus.
Dorothea Oberegelsbacher

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2016)
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