21. Oktober 2016

Ethik von unten

Von nst1

Politik, Arbeits- und Familienleben werden immer mehr von einem wirtschaftlichen Denken gesteuert. Kosten-Nutzen-Erwägungen strahlen bis in persönliche Beziehungen hinein. Der Unternehmer und ehemalige Politikberater Werner Peters aus Köln warnt vor einem entfesselten Kapitalismus.  Er fordert eine gemeinsame ethische Basis für eine bessere Gesellschaft, in der jeder mitwirken kann.

Herr Peters, Sie üben Kritik an unserer vom Kapitalismus geprägten Gesellschaft. Ist Markwirtschaft denn schlecht?
PETERS:
Nicht im Mindesten. Die Marktwirtschaft ist die vernünftigste Lösung für das wirtschaftliche Gedeihen einer Gesellschaft. Planwirtschaft oder Sozialismus in Reinkultur, Kommunismus, hat sich als undurchführbar erwiesen. Marktwirtschaft sollte man aber nicht mit Kapitalismus gleichsetzen. Der Kapitalismus hat viele Formen, und ein ungebremster, in dem allein das Geld regiert, hat mit einer vernünftigen Marktwirtschaft nicht viel zu tun.

Es gibt Anzeichen, dass etwas nicht stimmt, dass das aktuell praktizierte Wirtschaftssystem seine Grenzen hat: Zum Beispiel, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht, die Reichen also immer reicher werden. Der Kapitalismus ist amoralisch. Damit meine ich nicht unmoralisch, sondern frei von Moral. Er hat keine moralische Basis, sondern rechtfertigt sich aus seiner angenommenen Effizienz: Wenn alle ihren Interessen folgen, profitieren im Endeffekt auch alle davon. Das hat sich jedoch nicht bewahrheitet. Eine Gesellschaft und die Menschen, aus denen sie besteht, brauchen ein moralisches Fundament. Da der Kapitalismus glaubt, ohne moralische Fundierung auszukommen, kann er einer Gesellschaft keinen Halt geben, sondern lässt sie ins Leere laufen. Diese Öde und Sinnlosigkeit wird von den Menschen immer schmerzhafter gespürt.

Müssen wir mehr auf Teilhabe und Teilnahme in der Gesellschaft setzen?
Peters:
Eine demokratische Gesellschaft muss sich im Gegensatz zu einer autoritär geführten, die von oben ihre Richtlinien bekommt, aus sich selbst heraus organisieren und entwickeln. Sie kann nur existieren, wenn die Mitglieder sich engagieren. Wenn man also sagt: „Prima, es läuft doch alles von selbst, auch wenn ich nicht zur Wahl gehe“, wird sie auf Dauer untergehen. Das sehen wir jetzt: Wenn Probleme auftauchen, franst die Gesellschaft aus. Dann bilden sich an den Rändern Gruppierungen, die leichte Antworten auf komplizierte Probleme versprechen.

Sie bringen den Begriff „Generosität“ neu ins Spiel: Warum?
Peters:
Ich bin überzeugt, dass die Menschen etwas brauchen, das über ihren Tellerrand hinausgeht. Der reine Konsum, die reine Unterhaltung, dass es mir selbst wohl ergeht: Das reicht nicht! Früher war die Religion, das Himmelreich, ein Ziel, auf das man sein Leben ausgerichtet hat. Für die meisten Menschen ist heute Religion keine Option mehr, aber sie spüren, dass ein Leben ohne ein über sie hinausgehendes Ziel inhaltsleer ist. Es ist nicht so, dass die Menschen nur noch völlig egoistisch sind: die Eltern, die sich abmühen, um ihren Kindern ein besseres Leben zu bieten; die unheimlich vielen gemeinnützigen Initiativen – keineswegs verroht unsere Gesellschaft völlig. Der Gemeinschaftsgeist wird nur nicht gepflegt, zu wenig herausgestellt. Er kann sich kaum durchsetzen gegen den Geist des Kaufens und Habens, den die Werbung ständig dagegenhält.

Was meinen Sie mit „Generosität“?  Großzügigkeit?
Peters
: Generosität bedeutet, sich über sich selbst und die eigenen Interessen hinwegsetzen, um etwas zu tun für jemand anderes. Das Gute an der Idee ist, dass sie keinen Absolutheitsanspruch hat. Man muss sich nicht ausschließlich den anderen zuwenden. Es ist eine Haltung, die man gelegentlich oder als Basis seines Verhaltens pflegen kann, ohne die eigenen Interessen zu vernachlässigen. Das nenne ich einen „aufgeklärten Egoismus“. Dann hätten wir eine Gesellschaft, in der es sich lohnt zu leben. Eine Gesellschaft hingegen, in der alle nur raffen, an sich denken, konsumieren und nach dem nächsten Kick streben, ist müde und leer und macht krank.

Wie wollen Sie das den Menschen schmackhaft machen?
Peters:
Indem man ihnen diese Idee vermittelt: „Leute, denkt doch mal über eure Interessen hinaus. Seht doch, wie leer unser Leben und wie gefährdet unsere Gesellschaft ist, wenn sie nur aus an sich denkenden Individuen besteht, die ihr Leben dem Konsum und der Effizienz opfern. Dieses Geben bereichert im Endeffekt.“ Das ist eine Art Aufklärung, Erziehung, die allerdings von unten kommen muss. Zwar können Politiker oder Persönlichkeiten dazu beitragen, indem sie das den Menschen vor Augen führen. Aber im Grunde müssen sie es selbst spüren. Als moderne, aufgeklärte Menschen wollen wir uns eine Wahrheit nicht von oben aufdrängen lassen. Man muss darauf hoffen, dass sich eine solche Ethik von unten, von innen her entwickelt, wenn die Menschen merken, so geht es nicht weiter.

Aber wo anfangen? Ist da die Generosität ein wesentliches Element?
Peters:
Ja, aus diesem Geist könnte man eine Ethik entwickeln. Für eine Gesellschaft, die über den Kapitalismus hinauswächst, ihn mit einer Ethik einhegt, ohne ihn grundsätzlich zu verdammen. Denn wollten wir ihn durch etwas völlig Entgegengesetztes ersetzen, würden wir unsere Wirtschaft zerstören. Und es tut sich ja schon was: Viele Menschen denken in diese Richtung. Es gibt viele Initiativen. Da bin ich optimistisch.

Vor allem müssten wir unsere Sicht auf die Welt verändern: Wir kämpfen nicht gegen etwas, sondern befreien uns von dem, was an der Ideologie des Kapitalismus zu Öde und Leere im Leben führt. Es geht darum, dass die Menschen sich langsam davon distanzieren und zu einer neueren, höheren, besseren Sicht der Gesellschaft kommen. Und so würde ja jeder für seinen eigenen Vorteil kämpfen.

Wenn in einzelnen Ländern ein radikales Umdenken in diesem Sinn einsetzen würde, könnte sich das angesichts der weltweiten Verflechtungen überhaupt durchsetzen?
Peters:
Man muss irgendwo anfangen und sich nicht beirren lassen. Wenn wir denken, „wenn wir das machen, überholen uns die anderen,“ können wir gleich einstecken. Man muss den Mut haben, zu dem zu stehen, was man für richtig hält, und nicht immer nur Bedenken vor sich herschieben.

Würde sich so ein Denken auch nur in einem kleinen Kreis durchsetzen, erhielte jeder etwas zurück, weil andere ja genauso handelten. Insofern steckt eine Gegenseitigkeit darin. Es ist eine langfristige Bereicherung, auch wenn man noch nicht weiß, auf welchem Weg etwas zurückkommt.

Sie sind Inhaber eines Betriebs, der wie andere auf dem Markt bestehen muss: Verwirklichen Sie da schon Ihre Ideen?
Peters:
Ich bemühe mich sehr darum, meine Mitarbeiter respektvoll und gut zu behandeln. Wir haben Jahre hinter uns, wo es nicht so doll lief. Jetzt, wo wir gute Ergebnisse erzielen, habe ich meine Mitarbeiter mit einem Bonus daran beteiligt. Wenn es so weitergeht, möchte ich die Löhne, die in der Gastronomie sehr niedrig sind, schrittweise erhöhen, sodass die Mitarbeiter auch eine Art Teilhabe am Betrieb haben.

Ihre gesellschaftliche Ethik soll sich von unten entwickeln. Stellen Sie trotzdem Forderungen an die Politiker?
Peters:
Also erstmal sollte die Politik verdeutlichen, dass wir uns für die Gesellschaft einsetzen müssen, dass es nicht reicht, sich bedienen zu lassen. Das geht aber nur, wenn die Menschen das Gefühl haben, dass ihr Einsatz für die Gesellschaft auch honoriert wird. Daran scheitert es oft, weil Politiker aus nachvollziehbaren aber nicht gerechtfertigten Gründen lieber ihr Süppchen alleine kochen. Viele sehen ein Engagement der Bürger als Einmischung und blocken Vorschläge ab oder lassen sie ins Leere laufen. Das hat wohl jeder schon mal in einem Stadtrat erlebt. Insofern gefällt mir, wenn Frau Merkel sagt, wir müssen auch mal über uns hinauswachsen, auch wenn sie dafür unglaublich beschimpft, verachtet und kritisiert wird. Die Politiker müssten sagen: „Uns geht es doch wirklich supergut, lasst uns jetzt mal etwas zusammenrücken. Es ist doch ein Klacks, was euch da abverlangt wird.“

Herzlichen Dank für das Gespräch!    

Clemens Behr

Werner Peters,
geboren 1941 in Düsseldorf, schloss sein Studium der Altphilologie und Philosophie in Tübingen und Bonn mit der Promotion ab. Er war Assistent im US-Kongress in Washington und in Deutschland politischer Referent und selbstständiger Politikberater. Seit 1983 ist er Inhaber des Künstlerhotels „Chelsea“ und des „Café Central“ in Köln. Seine Gesellschaftskritik schrieb er unter anderem in den Büchern „The Existential Runner – Über die Demokratie in Amerika“, „Der schlafende Riese – Die Partei der Nichtwähler“ und „Generosität – Für einen aufgeklärten Egoismus“ nieder.

www.generositaet.de

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Oktober 2016)
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