21. November 2019

Ruanda: Licht und Schatten

Von nst5

Offener Brief an Paul Kagame

Sehr geehrter Präsident Kagame!

Wer als Tourist in Ihr Land kommt, muss am Flughafen der Hauptstadt damit rechnen, dass seine Taschen durchsucht werden. Denn neben Waffen, Drogen und Pornografie ist auch die Einfuhr von Plastiktüten und –verpackungen nicht erlaubt. Hier sind Sie konsequenter als viele europäische Staaten: Seit mehr als zehn Jahren ist der Verkauf und Gebrauch von Plastiktüten verboten. Schon Schüler werden über die Umweltschädlichkeit von Plastik aufgeklärt. Ihr Volk nutzt – trotz feuchten Klimas – Tüten aus Papier.
Ihr Land der tausend Hügel zählt wirtschaftlich zur afrikanischen Avantgarde. Letztes Jahr hat Volkswagen in Kigali eine Produktionsstätte eröffnet. Dort laufen Varianten von Polo, Passat und Co. vom Band. Jüngst im Oktober eine neue Überraschung: das erste komplett in Afrika gefertigte Smartphone! Aus Ruanda. Die beiden Modelle „Mara X“ und „Mara Z“ sind mit Gesichtserkennung und neuestem Betriebssystem ausgestattet. Zwar gilt Ihr Land noch immer als arm und das Stadt-Land-Gefälle bleibt groß, aber der Trend geht nach oben: Seit etwa zwanzig Jahren wächst die Wirtschaft jährlich um ca. sieben Prozent. Eine beachtliche Entwicklung – und Ihnen sind die Rahmenbedingungen zu verdanken! Sie haben eine staatliche Krankenversicherung eingeführt, die Korruption bekämpft; das Gesundheitswesen hat Fortschritte gemacht; und über 60 Prozent der Parlamentsabgeordneten sind Frauen – der höchste Anteil weltweit: Ihre Bilanz kann sich sehen lassen!
1994, vor 25 Jahren, war Ruanda Schauplatz eines unvorstellbaren Gemetzels: In nur wenigen Wochen wurden über 800 000 Menschen umgebracht – darunter 75 Prozent von der Minderheit der Tutsi, aber auch Hutu, die diese schützen wollten. Vieles wurde für Aufarbeitung und Versöhnung getan. Doch der Völkermord – das wissen Sie – bleibt eine frische Narbe, die wieder aufbrechen kann.
Das Ruanda der letzten Jahre gilt als wirtschaftliches Erfolgsmodell. Aber Ihre Regierungszeit hat auch Schattenseiten. Eine Zustimmung zu Ihrer Person von knapp unter hundert Prozent bei ebensolcher Wahlbeteiligung bei der Präsidentschaftswahl – das wirkt angesichts der mangelnden Transparenz der Wahlen unglaubwürdig. Wenig demokratisch ist auch, dass etliche Oppositionspolitiker gar nicht erst zugelassen wurden. Manche wurden diffamiert oder ermordet. Höchst befremdlich, dass die Sicherheitskräfte diesen Fällen kaum auf den Grund gingen, wo sie doch sonst gute Arbeit machen. Sie haben – mit einem umstrittenen Referendum – die Verfassung geändert, um über die vorgesehenen zweimal sieben Amtsjahre hinaus an der Macht zu bleiben. Bei der Pressefreiheit rangiert Ihr Land auf einer Liste von „Reporter ohne Grenzen“ nur auf Platz 155 von 180. Ein dunkles Kapitel ist auch die Unterstützung von Rebellengruppen in Nachbarstaaten wie der Demokratischen Republik Kongo, die dort für grausame Kriegsverbrechen verantwortlich sind. All das zeigt: In Sachen Demokratie, Freiheit und Menschenrechte hat Ruanda noch enormen Entwicklungsbedarf! Auf diesen Fortschritt werden Ruandas Bürger jedoch offensichtlich mit Ihnen als Präsident noch lange warten müssen.

Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr,
Redaktion NEUE STADT

Paul Kagame
Der 62-Jährige ist seit 2000 Staatspräsident von Ruanda. Direkt nach dem Völkermord 1994 war er Vizepräsident und Verteidigungsminister.
Ruanda ist mit über 12 Millionen Einwohnern ein kleines, dicht besiedeltes Binnenland in Ostafrika. Mit einer Größe von 26 338 km
2 ist es fast so groß wie Belgien. In der Hauptstadt Kigali leben knapp 1,3 Millionen Einwohner.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November/ Dezember 2019)
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