5. Oktober 2020

Ein geschätzter Ausbruchs-Helfer

Von nst5

Seit seiner Pensionierung vor zehn Jahren unterrichtet Albrecht Tangerding Strafgefangene. Dabei vermittelt er ihnen viel mehr als nur bessere Deutschkenntnisse.

Soll all die Erfahrung, all das in vielen Berufsjahren erworbene Fachwissen im Sand versickern, nur weil auf der Geburtstagstorte die Zahl „65“ steht? Dieser Gedanke verschaffte Albrecht Tangerding Unbehagen, je näher für ihn der Ruhestand rückte. „Grau ist bunt“, ein Buch des früheren Bremer Bürgermeisters Henning Scherf, inspirierte den Lehrer einer Würzburger Sprachförderschule, sich im Jahr vor seiner Pensionierung gut zu überlegen, wie er seine Talente im nächsten Lebensabschnitt nutzen und entfalten könnte. Als er bereits 2010 – mit erst 63 Jahren – sein Erwerbsleben beendete, war für ihn dann klar: Einen großen Teil der hinzugewonnenen Zeit und Kraft würde er seiner weit verstreut lebenden Familie mit vier erwachsenen Kindern und einer wachsenden Zahl von Enkeln widmen. Er wollte aber auch weiterhin unterrichten – und zudem noch einmal etwas ganz Neues wagen. 
Zu seinen Schülern, die sich mit der Sprache schwertaten, hatte er oft als Zauberkünstler einen persönlichen Zugang gefunden. Als „streng, aber lustig“ war er in der Schule bekannt. Die Zauberei hing er mit seinem letzten Schultag an den Nagel. Dafür wandte er sich der Clownerie zu, besuchte als frisch gebackener Pensionär eine Clownschule und ist seither als „Clown Töffi“ regelmäßig in einem Altenheim zu Gast.

Albrecht Tangerding. – Foto: (c) Klaus D. Wolf

Als Lehrer zog es ihn in das Gefängnis, das nahe seinem Wohnort am Rande eines Waldstücks liegt. Schon oft hatten ihn seine Spaziergänge an der großen Haftanstalt vorbeigeführt, und seine Gedanken waren dabei immer wieder in die völlig unbekannte Welt hinter den Mauern gewandert. Gern wollte er dazu beizutragen, dass die dort Inhaftierten nach ihrer Entlassung ein neues Leben beginnen können. Weiter unterrichten, aber keine Noten mehr geben zu müssen, war sein Wunsch. Sein Angebot, ehrenamtlich mitzuarbeiten, war willkommen. Sicherheitskräfte des Gefängnisses bereiteten ihn gründlich auf sein neues Einsatzgebiet vor. Er hätte es mit Männern zu tun, die immer wieder austesten würden, wie weit sie bei ihm gehen könnten, erfuhr der angehende Gefängnis-Lehrer. Er lernte die Sicherheitsregeln des Gefängnisses kennen und wurde auf manches hingewiesen, was er als unbedarfter Neuling sonst nicht durchschaut hätte. Beispielsweise lernte er, dass Hefe bei den Gefangenen nicht zum Kuchenbacken, sondern zur Gärung von Alkohol begehrt ist. 
Für seine neue Aufgabe, Analphabeten das Lesen und Schreiben beizubringen, wappnete er sich durch eine Reihe von Fortbildungen. Etwa zehn Prozent der Gefangenen in Deutschland sind Analphabeten, schätzen Experten. Dass Albrecht Tangerdings Lerngruppen über Jahre hinweg klein blieben, lag nicht an mangelnder Überzeugungsarbeit oder an der Qualität seines Unterrichts, sondern vielmehr an der gefängnis-typischen „Hackordnung“. Wer sich offen zu seinen Schwächen bekennt, der muss mit Spott und anderen Herabwürdigungen rechnen – selbst wenn der Kurs nicht „Alphabetisierung“, sondern „Neu-Lesen und Neu-Schreiben“ genannt wird. 
Einer der hoch motivierten Mutigen, die sich trotzdem im Kurs einfanden, lehnte es ab, Übungsblätter in seine Zelle mitzunehmen. Er fürchtete, dass er damit in seiner Gemeinschaftszelle bald „unten durch“ wäre. Erfolgreich setzte der Lehrer sich dafür ein, dass dieser Schüler eine Einzelzelle bekam und dort ungestört seine Übungsaufgaben erledigen konnte. 
Auf größeres Interesse stieß im Gefängnis der Unterricht in „Deutsch als Fremdsprache.“ Albrecht Tangerding hat hier vor einigen Jahren die Leitung der Grund- und Fortgeschrittenenkurse übernommen – wöchentlich jeweils eine Doppelstunde. Rund ein Dutzend Schüler sitzt hier Woche für Woche vor ihm, Männer unterschiedlichster Nationalitäten. 
Wie schon in den Alphabetisierungskursen vergisst er während des Unterrichts, dass er gemeinsam mit den Männern eingesperrt ist. Er denkt auch selten daran, was seine Schüler auf dem Kerbholz haben mögen. Er sieht sie als Gottes geliebte Geschöpfe. Seine Arbeit ist für ihn nicht zuletzt eine Gelegenheit, ihnen ihre eigene Würde bewusst zu machen und ihr Augenmerk auch auf das Gute zu lenken, das sie in ihrem Leben bereits vollbracht haben. 
Es kommt immer wieder vor, dass Männer ins Lamentieren verfallen: „Wir sind doch alle schlecht, wir sind nur Verbrecher!“ Dann baut sich Albrecht Tangerding in seiner ganzen Körpergröße von 1,95 Metern vor ihnen auf und lässt seine voll tönende Stimme laut und grimmig erklingen: „Hören Sie auf, so eine Scheiße zu reden!“, ruft er dann, abweichend von seiner gewohnten Wortwahl. „Etliche von Ihnen haben sich strafbar gemacht“, sagt er weiter, „Sie sind hier wegen einer Tat, aber nicht, weil Sie ein schlechter Mensch sind!“ In solchen Momenten ist es im Unterrichtsraum ganz still, man hört die Männer nicht einmal mehr atmen. Er sei keinesfalls besser als seine Zuhörer, fährt der Lehrer in ruhigerem Ton fort, doch er habe es besser gehabt: Er hatte Eltern, die sich für ihn interessierten, die ihn in die Kita geschickt haben und ihn bei den Hausaufgaben unterstützten, ihm ein eigenes Zimmer zur Verfügung stellten und Ferien ermöglichten. Einmal rief er einen der Schüler zum Spiegel, der über dem Waschbecken hängt, und forderte ihn auf, hineinzuschauen und zu sich selbst zu sagen: „Ich habe schon viel Gutes gemacht.“ „Reden Sie sich Gutes zu, nicht Schlechtes!“, wird er nicht müde, seinen Schülern in Erinnerung zu rufen.
Keinesfalls bestärkt er sie aber darin, ihre Schuld klein zu reden. „Ich bin nur hier, weil mein Chef ein Idiot war, weil meine Frau unmöglich ist“, bekommt er mitunter zu hören. Auch hier bringt er die Spiegel ins Spiel und erzählt von dem Zettel, den er zu Hause an seinen Badezimmerspiegel geheftet hat: „Hier siehst du den einzigen Menschen, der für dein Leben verantwortlich ist.“ Wer das verinnerlicht hat, hat bessere Chancen, sein Leben ohne weitere Straftaten fortzusetzen, ist er überzeugt. Viele seiner Schüler seien nur halb so alt wie er selbst. Sie haben noch Jahrzehnte vor sich, versucht er ihnen deutlich zu machen. Eine solch lange Zeit ist die Anstrengung wert, die Weichen für ein erfüllteres Leben zu stellen.
Als Lehrer in einem Gefängnis muss er Respektsperson sein, hat Albrecht Tangerding früh verstanden. Das bedeutet für ihn, dass er sich nie kumpelhaft verhält und dass er schnell und konsequent reagiert, wenn jemand den Unterricht stört, unpünktlich oder unzuverlässig ist. Respektperson zu sein schließt aber auch den Respekt ein, den er gegenüber den Gefangenen zeigt. Erleichternd ist es dabei für ihn zu wissen, dass er Grenzüberschreitungen nicht persönlich nehmen muss, dass viele seiner Schüler die gesellschaftlichen Spielregeln nicht einmal kennen. Sie hatten niemanden, der ihnen vorgelebt hätte, dass man Begonnenes auch dann durchzieht, wenn man mal keine Lust hat oder sich gesundheitlich nicht ganz auf der Höhe fühlt. Berührend ist es für ihn immer wieder zu erleben, wie dankbar sie auf Lob reagieren. „Sie sind der erste, der hier mal lobt“, hat er schon zu hören bekommen. Auch kleine Fortschritte nimmt er wahr und würdigt sie. 
Der Respekt vor seinen Schülern bringt ihn dazu, sich sehr gründlich auf jede Lerneinheit vorzubereiten. Jedes Mal sucht er nach Ideen, die den Schülern helfen, sich dem Unterrichtsstoff zu öffnen. Häufig wird er dabei seinem alten Ruf gerecht, „streng und lustig“ zu sein. Im Bewerbungstraining, das zum Fortgeschrittenenkurs gehört, schlüpft er gern auch mal in die Rolle eines Chefs oder eines Bewerbers. Als arbeitssuchender Gärtner, der gegen die Tür wummert und mit den Händen in den Hosentaschen schreit „Chef, brauche Arbeit, hast du Arbeit?“, hat er die Lacher auf seiner Seite und bekommt anschließend von einer hellwachen Lerngruppe konstruktive Verbesserungsvorschläge. 
„Was brauchen die Männer über den Lernstoff hinaus?“, fragt er sich häufig. Wie ein Vater oder Großvater ist er offen für Gespräche, die sich in Pausen oder nach der Unterrichtsstunde ergeben. Viele sind von Suchtverhalten geprägt, Rauschgift, Alkohol, Spiel-, Sexsucht, Gewalt … Mit einem jungen Mann, der sich schmerzverzerrt an sein lückenhaftes Gebiss fasste, kam er auf die Droge Crystal Meth zu sprechen. „Ohne Knast und ohne die Therapie hier wäre ich nie von diesem Zeug losgekommen“, vertraute der Mann ihm an. Nach dem Gespräch fühlte er sich darin bestärkt, einen wichtigen Schritt für ein gelingendes Leben nach der Haftzeit getan zu haben. Ein muslimischer Gefangener berichtete während der Deutschstunde von seinem gerade überstandenen Krankenhausaufenthalt. Aufgrund eines Missverständnisses hatte er Schweinefleisch zu sich genommen. Als ihm der Irrtum bewusst wurde, versuchte er, die Mahlzeit zu erbrechen und trank Reinigungsmittel, um der vermeintlich vernichtenden Strafe Allahs zu entgehen. Albrecht Tangerding schrieb zum Ende der Stunde an die Tafel: „Der Gott der Christen, Juden und Muslime ist für mich wie ein liebender Vater oder eine liebende Mutter. Er bestraft nicht, weil wir etwas Falsches gegessen haben.“

Foto: (c) Klaus D. Wolf

Wenn sich die Gefängnistüren nach zwei Doppelstunden wieder hinter ihm schließen, ist der Ruheständler oft müde, aber zufrieden. Er ist sich bewusst: „Ohne die vielen Jahre an der Schule wäre ich an dieser Aufgabe gewiss gescheitert.“ Auch sein ehrenamtliches Engagement trägt dazu bei, dass sein Leben Struktur hat, es hält ihn geistig und körperlich fit. Wenn er spürt, dass Beziehungen gewachsen sind, dass jemand über die Sprachkenntnisse hinaus etwas für sein Leben verstanden hat, gibt ihm das ein beglückendes Gefühl: Der Tag war nicht umsonst. „Ich helfe den Männern beim Ausbrechen“, hat Albrecht Tangerding einmal scherzhaft gesagt – nicht beim Eröffnen von Fluchtwegen, sondern in übertragenem Sinne, beim Ausbrechen aus Stillstand, Depression und dem Gefühl von Sinnlosigkeit.
Seit dem Corona-Lockdown im März ist der Gefängnis-Unterricht ausgefallen. Nach einigen Wochen hat Albrecht Tangerding seinen Kursteilnehmern einen Brief geschrieben. Ihm sei bewusst, wie schwer es für sie ist, monatelang keinen Kontakt mehr zu ihren Familien zu haben. Er erinnerte sie daran, dass sie im Deutschkurs gelernt hatten, Briefe zu schreiben. Zu Weihnachten hatte er jedem Briefpapier und ein Linienblatt geschenkt. Nun ermutigte er sie zu schreiben. Briefe schreiben sei ein gutes Mittel gegen schlechte Laune und Langeweile, ebenso wie anderen zuhören, Gutes tun oder jemandem etwas Gutes zu sagen. All dies mache das Leben spannender. 
Im neuen Schuljahr wird er seinen freiwilligen Dienst hinter Gittern fortsetzen, freut sich der 74-Jährige.
Dorothee Wanzek

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September/Oktober 2020)
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