1. Februar 2021

Mobilität der Zukunft

Von nst5

Liefer-Drohnen, Hyperloop und selbstfahrende Taxis: Die Zukunft der Mobilität klingt spannend – und ein bisschen nach Science-Fiction. Wohin geht die Reise? Und wie kann unser Beitrag zu nachhaltiger Mobilität gelingen?

27. September 1825: Im Nordosten Englands tritt die berühmte „Locomotion No. 1“ ihre Jungfernfahrt an. Neben Kohle- und Mehlsäcken hat die Dampflok zum ersten Mal Passagiere an Bord – im eigens angehängten Waggon mit dem bezeichnenden Namen „Experiment“. Mit einer revolutionären Geschwindigkeit von 24 Stundenkilometern feiert die Locomotion No.1 auf der Strecke zwischen Brusselton und Stockton Weltpremiere – und katapultiert die Menschheit in ein neues Transportzeitalter.
200 Jahre später: Am 9. November 2020 absolviert das US-amerikanische Unternehmen Virgin Hyperloop erfolgreich die erste bemannte Hyperloop-Testfahrt. Auf einer Strecke von nur 500 Metern erreicht die Kapsel im Rohrpostprinzip eine Höchstgeschwindigkeit von gut 170 Stundenkilometern. Im Realbetrieb, der für das Jahr 2030 geplant ist, sollen Geschwindigkeiten von über 1200 Stundenkilometern Wirklichkeit werden: ein neuer Meilenstein in der Geschichte der Mobilität.
Die Taktung mobiler Errungenschaften folgt der immer gleichen Logik von „schneller, höher, weiter“. Unwillkürlich fragt man sich, wie lange sich das fortsetzen lässt – und wohin es uns führt: Was bringt die Zukunft der Mobilität? Wie sehr wird sie unseren Alltag verändern?

Nächtliche Autobahn in der Nähe von Genf. Der Bedarf an Mobilität nimmt weltweit zu. – Foto: (c) laurie-decroux (unsplash)

Klar ist: Der Bedarf an Mobilität nimmt weltweit zu. Gerade in Schwellenländern steigt dabei die Motorisierungsrate enorm: In Indien wächst sie derzeit fünfmal so schnell wie die Bevölkerung. Aber auch vor unserer Haustüre staubt und lärmt es weiterhin: Nach Prognosen des deutschen Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur werden im Jahr 2030 noch immer drei Viertel des Personenverkehrs auf das Auto zurückgehen. Bleibt also alles beim Alten, Klimazielen und Fridays for Future zum Trotz?
Ja und Nein, sagt das Zukunftsinstitut in Frankfurt am Main – eine der einflussreichsten Denkfabriken der europäischen Trendforschung: Tatsächlich ist das Auto bis auf Weiteres Fortbewegungsmittel Nummer eins. Denn auch in Zukunft wird unser Verkehrsverhalten maßgeblich vom Bedürfnis nach individueller Mobilität bestimmt. Mitnichten bleibt aber alles wie gehabt: „Der Konsum von Mobilität, wie wir ihn jahrzehntelang praktiziert haben, erlebt gegenwärtig eine historische Zäsur.“

Elektroauto an einer Ladestation. Unser Verkehrsverhalten wird auch weiterhin maßgeblich vom Bedürfnis nach individueller Bewglichkeit bestimmt. – Foto: (c) maxim-hopman (unsplash)

Gerade am PKW, seit 70 Jahren Inbegriff und Gradmesser persönlichen Wohlstands, wird der grundlegende Veränderungsprozess sichtbar: Er verliert, insbesondere in den wachsenden urbanen Räumen, zusehends seine Vorteile gegenüber alternativen Verkehrsmitteln. Schnell und komfortabel von A nach B – das gelingt in überfüllten Innenstädten, auf hektischen Hauptverkehrsstraßen und überladenen Verkehrsknotenpunkten immer weniger. In den meisten Großstädten wird das Auto deshalb zum Hindernis, mit dem Fahrrad ist man vielerorts deutlich schneller unterwegs. Der PKW wird sich auf längere Sicht nur noch dort behaupten können, wo er sich als Baustein individueller Fortbewegung in einen – Achtung Schlagwort – multimodalen Mobilitätsmix integrieren lässt.
Für die Zukunft bedeutet das: Menschen kaufen sich das Fortbewegungsmittel nicht mehr, sondern den Zugang zu Mobilitätsprodukten. Je nach Situation und Bedarf wird das optimale Verkehrsmittel gewählt: bei Regen die Öffentlichen, bei Sonne das Leih-Fahrrad, zur Arbeit die Bahn, zum Baumarkt der Mietwagen. Die Devise „Nutzen statt besitzen“ wird die Logik unserer Fortbewegung bestimmen. Das Smartphone wird dabei zum zentralen Tool einer neuen All-Inclusive-Mobilität: Der finnische Mobilitätsdienstleister MaaS Global hat mit „Whim“ schon 2015 eine Smartphone-Anwendung („App“) auf den Markt gebracht, die eine reibungslose und stressfreie Fortbewegung im Nahverkehr aus einer Hand ermöglicht. Ob ÖPNV, Taxi, E-Scooter, Leihwagen oder City-Bike – mit Whim wird der Weg von A nach B nicht nur geplant, sondern direkt bezahlt, teilweise per Flatrate. Das Anliegen: den Menschen die Freiheit und den Komfort eines privaten PKW ermöglichen – ohne ihn besitzen zu müssen. Seit der Gründung wurde das Unternehmen hinter der App schon mehrfach ausgezeichnet. Nach Helsinki, Antwerpen, Birmingham, Singapur und Tokyo startete die Anwendung Ende 2019 auch in Wien.

Leih-E-Bikes. In Zukunft kaufen sich Menschen immer seltener eigene Fahrzeuge, sondern den Zugang zu Fortbewegungsmitteln. – Foto: (c) humphrey-mulaba (unsplash)

Überhaupt, Wien: Die österreichische Metropole, zuletzt zehn Mal in Folge als weltweit „lebenswerteste Stadt“ ausgezeichnet, gilt als „Smart City“ und Vorzeigemodell für innovative Städteplanung. 2030 will sie die Treibhausgasemissionen pro Kopf um 50 Prozent gesenkt haben, bis 2050 nahezu klimaneutral sein: „Das geht nur, wenn etwa der Gebäudesektor und Verkehr sich deutlich wandeln“, meint Stadtplaner Thomas Madreiter, der für die städtebaulichen Umsetzungen der Smart-City-Strategie verantwortlich ist. Einen positiven Effekt erwartet er von der allgegenwärtigen Corona-Krise: „Sie wird als Beschleuniger wirken, um digitale Systeme dort zu implementieren, wo es sinnvoll ist.“
Die Stadt als Innovationsgeber: Wien geht hier mit vielversprechendem Beispiel voran. Aber was passiert in den ländlichen Regionen? Eine Studie des deutschen Automobilclubs ADAC von Ende 2018 zeigt: Auf dem Land geht ohne den eigenen PKW fast nichts. Er deckt rund 96 Prozent der Fortbewegung ab. Problematisch wird das – von Klimaaspekten mal abgesehen – besonders für Menschen jenseits der 55, die mit zunehmendem Alter auf Alternativen zum eigenen PKW angewiesen sind. In Zukunft wird es den Studienautoren zufolge deshalb auch auf dem Land verstärkt um flexible, barrierefreie und innovative Mobilitätskonzepte gehen, die öffentliche mit privaten Verkehrsmitteln reibungslos verknüpfen.

Im Großstadtverkehr verliert das Auto seine Vorteile. – Foto: (c) gilly (unsplash)

Die Corona-Krise hat uns verstehen lassen, welche Bedeutung Bewegung und Mobilität in unserer Welt haben. Als Voraussetzung für soziale Teilhabe, wirtschaftlichen Erfolg und Sicherung unserer wichtigsten Bedürfnisse. Spätestens durch die Auswirkungen der Pandemie sind viele Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit immens eingeschränkt: Risikogruppen. Alte, Kranke und Einsame. Sie alle brauchen unsere Unterstützung – auch über Krisenzeiten hinaus: bei Erledigungen aller Art, beim Einkaufen, beim Ausführen von Haustieren – oder einfach in Gesprächen, per Telefon oder Internet.
Wir, das sind dem Zukunftsinstitut zufolge die sogenannten Mobilitätsreichen: „Menschen, die das Privileg sämtlicher mobiler Möglichkeiten haben und diese auch zu nutzen wissen.“ Bis innovative Mobilitätskonzepte in Stadt und Land greifen, werden Jahre und Jahrzehnte vergehen. In der Zwischenzeit sind wir aufgefordert, unseren Beitrag für eine gerechtere Verteilung zu leisten, indem wir anderen Menschen Anteil an unseren Mobilitätsmöglichkeiten geben. Denn soziale Inklusion bedeutet auch: gleiche Mobilität für alle.

WAS JEDE UND JEDER EINZELNE TUN KANN:
Handeln:
So oft wie möglich auf das eigene Auto verzichten.
Wann immer möglich Öffentliche Verkehrsmittel nutzen.
Testen:
in urbanen Gegenden: Apps aller verfügbaren Carsharing- und Bikesharing-Anbieter herunterladen, sich registrieren und einfach mal testen.
in ländlichen Gegenden: Mitfahrgelegenheiten suchen oder anbieten.
Austauschen:
Mit Freunden sprechen, Erfahrungen teilen: Austausch schafft Bewusstsein.
Gemeinsame Testphasen vereinbaren, etwa mit Kollegen im Büro. Im Anschluss: Erfahrungen vergleichen, Schwachstellen verändern.
Rückmeldung an Anbieter geben.

GLOSSAR NEUE MOBILITÄT
Multimodalität: Nutzung verschiedener Verkehrsmittel, die sich in ihrer Mischung zu einer bedarfsgerechten Mobilität ergänzen
Autonomes Fahren: Letzte Entwicklungsstufe der Fahrzeugautomatisierung. Das Fahrzeug fährt ohne Beteiligung des Fahrers, der zum Nutzer wird.
Letzte Meile: Der letzte Teilabschnitt einer Wegekette, der die Nutzer unmittelbar an ihr Zuhause oder Ziel anbindet.
MaaS (Mobility as a Service): umfasst Dienstleistungen, die es ermöglichen, verschiedene Verkehrsmittel nach Bedarf und im nahtlosen Übergang zu nutzen.
Intelligente Infrastruktur: Informationsaustausch, etwa zwischen Sensoren, Ampelanlagen und Verkehrsinformationssystemen mit dem Ziel, das Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer vorwegzunehmen oder zu erfassen, und eine nachhaltige, wirtschaftliche und sichere Mobilität zu gewährleisten.

Noemi Kegler

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2021)
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