3. August 2021

Ein Schritt nach dem anderen

Von nst5

Fünftausend Kilometer, elf Monate und zehn Länder: Rosanna Brusadelli pilgerte

alleine und zu Fuß von der Schweiz bis nach Jerusalem.

Alle Fotos: privat

„Vor zwölf Jahren hätte ich nie gedacht, dass ich einmal pilgern würde“, meint Rosanna Brusadelli mit einem tiefen Lächeln. Durch einen Dokumentarfilm kam sie mit der Idee in Berührung. Sie verstand, dass es nicht um das sture Ablaufen von Kilometern ging, sondern vielmehr um einen inneren Weg. Mit dieser Einstellung wagte sie die ersten Schritte in Spanien auf dem Jakobsweg und erreichte Santiago de Compostela. Daraufhin folgten zehn Jahre, in denen Rosanna in ihren Urlauben auf Pilgerwegen unterwegs war: dem Jakobsweg in der Schweiz, Frankreich, Spanien und der Via Francigena nach Rom. Eine tiefe Erfahrung, die sie nicht mehr losließ.
Rund vierzig Jahre hatte Rosanna im Schweizer Fokolarzentrum Baar mitgearbeitet, dem heutigen Dialoghotel Eckstein, zuletzt als Leiterin Hauswirtschaft. Als sie 2018 kurz vor der Pensionierung stand, wünschte sie sich erst mal eine Auszeit. So reifte in ihr der verrückt anmutende Gedanke, von der Schweiz aus nach Jerusalem zu pilgern, durch dreizehn Länder, über 5000 Kilometer zu Fuß. Ein Jahr lang erzählte sie niemandem von ihrer Idee: „Ich habe schon alle die Augen verdrehen sehen“, meint sie lachend.
Rosanna kamen selbst Fragen und Zweifel. Sie spürte, dass sie sich ihnen widmen musste: Wo laufe ich durch? Wie finde ich den Weg? Kann ich als Christin und als Frau allein durch bestimmte Länder reisen? Schaffe ich das? Rosanna spricht heute mit viel Ruhe über diese Phase. Ein Gedanke half ihr, all den Ängsten zu begegnen. Sie versuchte, die offenen Fragen in eine Art Päckchen zusammenzubringen und es Gott anzuvertrauen. Dabei zeigt sie mit dem Finger in Richtung Himmel. Heute sagt sie: „Ich wusste, ich werde geführt.“
Was motivierte Rosanna, nach Jerusalem zu gehen? „Der Ort hat mich in den letzten Jahren wie ein Magnet angezogen“, erzählt Rosanna. „Es war wie ein Ruf, ein Traum, der nicht vom Verstand kam, sondern aus dem Herzen. Außerdem war es für mich ein Weg des Dialogs, des Friedens, des Vertrauens, der Begegnung und auch ein ‚Danke sagen’ für mein Leben. Ein Weg mit Gott. In dieser Haltung zu gehen, das war für mich wie ein Motor.“
Die Reise begann in Baar mit einem Gottesdienst und anschließendem Pilgersegen. Am 26. Mai 2018, einem Samstagmorgen, lief Rosanna, begleitet von einigen Freunden, los mit dem Ziel Einsiedeln, dem größten Wallfahrtsort der Schweiz. Mit großer Dankbarkeit erinnert sie sich an den ersten Tag, obwohl ihr nach diesen rund 25 Kilometern schon alles weh tat.

Der Streckenabschnitt bis Wien war der einfachste, Kultur und Geographie waren ihr bekannt, die Wege gut markiert. Doch danach hatte Rosanna keine Ahnung, was sie erwarten würde. Einzig die vormarkierten GPS-Daten eines ehemaligen Jerusalem-Pilgers, den sie in Linz kennengelernt hatte, führten sie. Diese Begegnung „war Vorsehung“, meint Rosanna. Denn den GPS-Daten des Pilgers, der den Weg vor zehn Jahren bestritten hatte, brauchte Rosanna nur zu folgen. Als Gegenleistung markierte sie die Strecke mit dem Jerusalemsignet, das sie von ihm erhalten hatte, um späteren Pilgern die Orientierung zu erleichtern, und gab ihm Rückmeldungen zum Zustand des Weges.
Ihr typischer Pilgertag sah folgendermaßen aus: „Ich wachte auf, packte meinen Rucksack und zog zwischen sechs und sieben Uhr los. Nicht immer gab es etwas zum Frühstück, manchmal einfach Brot und Wasser“, meint Rosanna. Nach zwei bis drei Stunden Laufen machte sie meistens eine Pause und betete auf dem Weg. Wenn Rosanna erzählt, hört sich vieles sehr einfach an, fast wie ein Spaziergang. Doch sie plagten meistens am Morgen viele Sorgen: Welche Menschen würden ihr begegnen? Würden sie gutgesinnt sein? Würde sie eine Person finden, die ihr eine Übernachtungsmöglichkeit zeigen konnte? Immer wieder versuchte sie, ein Päcken mit den Sorgen „an Gott zu schicken“. Jedes Mal, wenn sie am Nachmittag in ein Dorf kam, nahm sie sich Zeit für ein Stoßgebet und bat Gott, sie zur richtigen Person zu führen, die ihr weiterhelfen könnte. Sie berichtet von Momenten, in denen ein innerer Friede sie klar spüren ließ, wen sie ansprechen konnte: „Manche Leute würden sagen, das war mein Bauchgefühl. Aber für mich war das mehr“, sagt sie überzeugt: „Es war jedes Mal eine göttliche Führung.“

Während sie Österreich durchwanderte, beschrieb sie in ihrem Blog, über den Freunde und Bekannte die Pilgertour mitverfolgen konnten, eine Begegnung, „die ich nicht so schnell vergesse. Ich grüße eine ältere Frau. Sie murmelt etwas vor sich hin. Ich nehme an, es sei ein Gruß, und gehe weiter. Doch plötzlich frage ich mich, ob die Frau mir vielleicht etwas sagen will – und ich gehe vorüber, ohne mir Zeit für sie zu nehmen. Habe ich vor lauter Kilometerzählen den Sinn meiner Pilgerreise – die Begegnung, den Dialog, den Frieden – vergessen? Ich kehre um. Sie erzählt mir von großen Sorgen. Ihr Mann und ihr Sohn sind gestorben und jetzt auch noch ihre Schwester: ‚Bitte beten Sie in Jerusalem für mich’. ‚Das mache ich gerne’, verspreche ich ihr. Wir haben beide Tränen in den Augen und umarmen uns.“

„Von Ungarn weiter gibt es keine Pilgerunterkünfte mehr“, erzählt Rosanna. „Wenn hier fünf Pilger im Jahr nach Jerusalem unterwegs sind, ist das viel.“ Eines Abends erreichte sie ein Dorf. Hier hatte ihr ein Pfarrer, den sie eine Tagesetappe zuvor getroffen hatte, eine Unterkunft im Haus neben der Kirche vermittelt. „Mir öffnet ein kleiner, hagerer Mann die Tür und zeigt mir gleich mein Zimmer“, schrieb sie in ihren Blog. „Mich trifft der Schlag. So ein Schmutz!“ Später entdeckte sie tote Insekten unter der Bettdecke. „Es ekelte mich. Am liebsten würde ich diesen Ort sofort verlassen.“ Ihr Anliegen, das sie mit der Pilgerreise verfolgt, hielt sie zurück. „Mein Gastgeber will unbedingt, dass ich bei ihm esse. Als ich die Küche sehe, stockt mir der Atem. Ich hoffe, dass ich nicht krank werde! Doch dann sage ich mir: Bleibe nicht beim Äußeren stehen, sieh den Menschen, der vor dir steht, und nicht das Durcheinander, den Schmutz. Nimm ihn so an, wie er ist. Schenk ihm deine Wertschätzung. Dies ist mein Weg.“
Skopje, Nordmazedonien. Sechs Monate war Rosanna unterwegs, als sie ein streunender Hund in die Kniekehle biss. Weil die starken Schmerzen nicht nachließen, kehrte sie im Dezember 2018 in die Schweiz zurück, um sich auszukurieren. „Auch dieser Zwischenstopp hat einen Sinn“, beruhigte sie sich. „Es ist nicht wichtig, wo ich bin, sondern dass dort, wo ich bin, mein Herz ist.“ Im August 2019 setzte sie ihren Weg fort, wo sie ihn unterbrochen hatte: in
Skopje.

Rosanna wurde auf ihrer Reise immer wieder mit Vorurteilen konfrontiert: Viele Menschen in den Balkanstaaten warnten sie vor den Flüchtlingen. In der griechischen Grenzstadt Polykastro wurde sie selbst als Flüchtling angesehen und erlebte, dass man ihr die Türe vor der Nase zuschlug. Da sie überall fortgeschickt wurde, musste sie schlussendlich auf einer öffentlichen Toilette übernachten. Selbst dieser Erfahrung kann sie etwas Positives abgewinnen: Sie gab ihr mehr Empathie für die Menschen, welche solche Erfahrungen täglich machen.
Auch ihre eigenen Vorurteile wandelten sich. Heute erklärt Rosanna absolut überzeugt: „Ich traf auf meiner Reise keine Serben, ich traf keine Flüchtlinge, ich traf Menschen!“ Gerade auf dem Balkan, wo viele Bevölkerungsgruppen aufeinandertreffen, habe sie immer wieder große Menschlichkeit erlebt: „Ich wurde von etlichen muslimischen Familien eingeladen. Sie fragten, ob ich Christin sei. Ich bejahte und meinte dann immer ‚Ich; Allah’ und ‚Du; Allah’“, wobei sie beide Male mit dem Zeigefinger nach oben zeigte. Rosanna wurde immer wieder warmherzig aufgenommen, was sie oft sehr berührte. Manchmal sei am Abend noch die halbe Dorfgemeinschaft gekommen, um sie zu grüßen, insbesondere in der Türkei. Sie verständigte sich mit Händen und Füßen. Einen Satz aber hat sie in jeder Sprache der durchquerten Länder gelernt: „Hallo, ich bin aus der Schweiz, ich bin eine Pilgerin und ich laufe nach Jerusalem.“ So habe sie sich in Restaurants oder Läden immer vorgestellt, wobei sich oftmals die Gesichter daraufhin erhellten. Die Menschen schätzten es, dass sie sich für ihr Land und ihre Sprache interessierte und den Weg durch ihr Land gewählt hatte.

„Seit mehr als drei Monaten bin ich ab Skopje nun unterwegs und keinem einzigen Pilger begegnet. Ich fühle mich aber nie alleine, denn Gott begleitet mich“, schrieb Rosanna auf. Sie betete immer wieder für alle, denen sie begegnete, und für die Anliegen, die ihr anvertraut worden waren. „In der letzten Zeit bete ich auch für mich und bitte Gott, mir eine Woche vor Konya, Türkei, jemanden zu schicken, um gemeinsam dorthin gehen zu können.“ Die Millionenstadt soll nicht sicher sein, hatte sie gehört. „Überall hängen Plakate mit negativer Propaganda gegen Christen. Genau eine Woche vor Konya treffe ich Marie aus Frankreich, die auch nach Jerusalem pilgert, aber in der Türkei zur Sicherheit mit dem Bus unterwegs ist. Nun können wir zu zweit bis Konya durch das Taurusgebirge wandern. Was für ein Geschenk Gottes. Wir können es beide kaum fassen.“
Monatelang allein unterwegs zu sein, ist körperlich, aber auch mental eine Herausforderung. Erstaunlicherweise hat sie in keinem Moment der Reise aufgeben wollen. Ihr half, sich immer wieder zu sagen: „Lebe im Jetzt!“ Scherzhaft fügt sie an: „Wenn ich an die Tausende Kilometer gedacht hätte, die noch vor mir liegen, wäre es mir gleich schlecht geworden.“ Sie erklärt: „Wenn du beim Laufen schon am Ziel sein möchtest, dann wirst du nie ankommen. Lebe gut im Jetzt. Ein Schritt nach dem anderen.“ Dies war manchmal hart, vor allem, wenn es geregnet hatte und „der Schlamm mir bis zu den Knien ging“ oder der Weg komplett verwachsen war. Bei alldem spürte Rosanna keinen Druck, unbedingt ankommen zu wollen: „Entweder du kommst ans Ziel, wenn alles gut geht. Und wenn du nicht ans Ziel kommst, dann ist das auch kein Problem.“

Als sie am 7. Januar 2020 Jerusalem erreichte, war Rosanna überwältigt. In der Grabeskirche kniete sie nieder und dankte Gott für das Geschenk, das diese Reise für sie war. In ihrem Blog vermerkte sie: „Ich bin sehr dankbar, dass alles so gut gegangen ist. Es war eine Erfahrung, die mein Herz auf die ganze Menschheit ausgedehnt hat. Ich habe viel mehr erhalten, als ich mir je hätte vorstellen können.“
Nun ist Rosanna schon wieder einige Zeit zurück in Baar und geht weiterhin pilgern. Sie schreibt an einem Buch über ihre Reise, eine Reise über 5000 Kilometer bis nach Jerusalem, die für sie aber vor allem eine innere Reise war, eine Reise mit Gott. Hut ab!
Luana Nava

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2021)
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