6. Oktober 2021

Lieben wollen ist lieben

Von nst5

1982 gründete Charly Rottenschlager eine kleine Gemeinschaft für Haftentlassene.

Ein Leben lang hieß er Menschen am Rande der Gesellschaft willkommen. 12 000 waren es bisher.

Wenn Charly Rottenschlager von der „Gnade des Nullpunktes“ spricht, dann meint er damit das Gute, das entstehen kann, wenn alles am Ende zu sein scheint. Und wenn er das sagt, klingt das nicht nach realitätsfremder Utopie, sondern dann steht dahinter die Erfahrung eines Lebens. Menschen in Extremsituationen, traumatisiert, wieder und wieder gescheitert, suchtkrank und ohne Hoffnung waren und sind sein Alltag. Und der heute 74-Jährige wird nicht müde, seine Überzeugung weiterzugeben: „Es gibt keinen hoffnungslosen Fall.“
In die von Charly Rottenschlager vor vier Jahrzehnten gegründete Emmausgemeinschaft im niederösterreichischen St. Pölten kommen Menschen in Krisensituationen nach Heim-, Gefängnis- oder Psychiatrieaufenthalten. Die Gemeinschaft macht ihnen Angebote in den Bereichen Wohnen, Arbeit und Integration. Das Projekt, das einst mit wenigen Personen begann, umfasst heute vier Wohnheime, drei Notschlafstellen, zwei Tageszentren und vier Betriebe, die den Einstieg in den Berufsalltag erleichtern. Das Ziel formuliert Charly in Anlehnung an Sigmund Freud, der vom „liebes- und arbeitsfähigen Menschen“ sprach.

Charly Rottenschlager.
Alle Fotos: (c) Emmausgemeinschaft

Die Wurzeln für Charlys Engagement liegen in dem Mostviertler Bauernhof, auf dem er seine ersten Lebensjahre verbrachte: inmitten einer Großfamilie, in der jede und jeder willkommen war – vom Tagelöhner bis zum Bettler aus der nahe gelegenen Stadt Steyr. Der Satz seiner Großmutter „Ruckt’s zuwa!“ (Rückt näher zusammen) wurde für ihn zu einer Art Lebensmotto.
Auch in der Emmausgemeinschaft heißt Charly Menschen willkommen. Von „sozialen Empfangsräumen“ spricht er und was er damit meint, erklärt er mit einem Zitat von Pater Georg Sporschill, einem ebenso sozial Engagierten: „Wichtiger als das Dach über dem Kopf ist die freundliche Aufnahme des Hilfesuchenden.“
Nach seiner Ausbildung als Theologe und Sozialarbeiter war Karl Rottenschlager neun Jahre lang als Sozialarbeiter in einer Haftanstalt tätig. In dieser Zeit fragte er einen Häftling, was der Freiheitsentzug bei ihm bewirkt hat. Seine Antwort: „Der Häfn (das Gefängnis) ist eine Schule des Hasses.“ Auf die Gegenfrage, was Häftlinge bräuchten, antwortete er wie aus der Pistole geschossen: „Eine Schule der Liebe“.
Erlebnisse wie diese ließen in Charly den Wunsch nach der Gründung einer Gemeinschaft mit „familienähnlicher“ Dimension wachsen. „Ich hatte damals einen Traum. Ich stand auf der Terrasse im Kloster Göttweig, schaute auf die Wachau runter und dort, wo das Gefängnis ist, stieg eine Rauchwolke auf, und es war nicht mehr dort. Ich wachte auf und war überglücklich.“
Bis zur Gründung der Emmausgemeinschaft galt es, jede Menge Hindernisse zu überwinden. Fünfmal ist Charly zwischen 1979 und 1982 gescheitert. Jedes Mal bekam er zu hören: „Toll, was ihr da vorhabt, aber bitte nicht bei uns.“ Heute liegt das lange zurück, und Auszeichnungen wie das „Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Niederösterreich“ zeugen von öffentlicher Anerkennung.
Sein Leben gestaltet Charly auf einer konsequent gelebten spirituellen Basis. Schon in seiner Jugend konfrontierte er sich immer wieder mit der Frage: Bist du bereit, alle deine beruflichen und privaten Pläne loszulassen, um mit den Armen und Ausgegrenzten dein Leben zu teilen? Das Ja auf diese Frage hieß für Charly auch, dass er sich für ein Leben ohne eigene Familie entschieden hat. Heute sagt er: „Ich habe zwar keine eigenen Kinder, aber das hier ist meine Familie. Wir hatten hier schon Taufen, Hochzeiten … und es ist eine große Freude zu sehen, wie viele ein gelingendes Leben führen.“

Die Emmausgemeinschaft versteht sich als Weggemeinschaft mit klaren Spielregeln, damit das Miteinander gelingen kann. Gegenseitige Wertschätzung und Hochachtung ist eine davon. „Das ist eine Revolution“, sagt Charly – und erzählt eine seiner vielen Geschichten: Nach seinem rassistischen Ausraster bei einem Tischtennisturnier reicht ein Wiener Ex-Häftling seinem Gegenüber aus Pakistan mit den Worten die Hand: „I siach, do hob i sauwa daneben g‘haut, i entschuldig mich“.
Natürlich gelingt es nicht immer, diese Ziele zu verwirklichen. „Auch mir nicht“, sagt Charly. „Es sind ja Ideale. Darum ist bei mir auch immer die erste Frage der Gewissenserforschung: Habe ich heute an die Macht der Liebe geglaubt?“ Und er erzählt die nächste Geschichte von einem, der ständig provoziert hat und die anderen zur Schnecke gemacht hat. „Da bin ich explodiert und hab ihn vor den anderen angefaucht: ‚Wenn du das jetzt nicht einstellst, hau ich dich raus!‘ Am Abend bin ich dann draufgekommen: Ich habe ihn vermutlich sehr verletzt, denn ich habe ihn genauso vor den anderen zur Schnecke gemacht. Ich habe 48 Stunden gebraucht, bis ich bei ihm geklopft habe und ihm sagen konnte: Inhaltlich kann ich es nicht zurücknehmen, aber ich entschuldige mich für die Art, in der ich dir das hingeknallt hab.“
Konflikte gewaltfrei zu regeln, das gehört in Emmaus zu den Spielregeln. „Wenn man es hochrechnet, kommen wir bei unseren Gästen in den vergangenen 40 Jahren auf mehr als zehntausend Jahre Gefängnis, und trotzdem brauchen wir fast nie die Polizei. Ich sage immer: Die Bergpredigt ist keine Utopie. Professionelle Begleitung braucht es allerdings auch.“
Was Charly anpackt, ist von diesen beiden Dimensionen geprägt: Spiritualität und Professionalität. Ein unerschütterlicher Glaube an Gott, der die Liebe ist, gepaart mit profunder fachlicher Kompetenz sind zwei Grundprinzipien in Charlys Leben.

Er erklärt das so: „Du brauchst eine spirituelle Beheimatung, sonst hältst du diesen Ozean an Leid nicht aus.“ Diese Beheimatung hat Charly Rottenschlager auch in der Fokolar-Bewegung gefunden. Die Spiritualität Chiara Lubichs und die Gemeinschaft mit anderen prägen und begleiten ihn seit seiner Jugend.
Charly schöpft aus vielen Quellen. So erzählt er von Schwester Emmanuelle in Kairo, die auf die Frage: „Wie halten Sie es da aus?“ sinngemäß antwortete: „Alles in meinem Leben ist Teil der Passion Christi, aber alles in meinem Leben ist auch Teil der Auferstehung.“
„Das war auch meine Überlebensformel“, sagt Charly. „Ich muss nicht stark sein. Ich bin ein fehlerhaftes Werkzeug. Ich bete oft beim Vaterunser: Gib uns unsere tägliche Schwierigkeit und verwandle du sie.“ Charly verweist auch auf Charles de Foucauld: „Der hat sich oft gequält, ob er wirklich geliebt hat. Einen Tag vor seinem Tod hat er schließlich geschrieben: ‚Lieben wollen ist lieben.‘ Das ist es! Ich habe gelernt: Das Mögliche tun und das Unmögliche Gott zumuten.“
In Emmaus kann jede und jeder, der die ausgestreckte Hand annimmt, neu starten. Auch mehr als einmal: Es ist nicht schlimm, wenn einer dreimal, fünfmal oder zehnmal ausrutscht – zwischen Drogen, Verzweiflung und Straffälligkeit ist das beinahe die Regel. Doch Charly bleibt dabei: „Wir sagen: ‚Komm!‘ Er kann immer wieder neu beginnen. Es gibt dieses Lied, an das ich oft denken muss: ‚Immer beginn ich von Neuem.‘“ Wieder erzählt er eine Geschichte. Diesmal von einem, der ganz unten war und nach erfolgreicher Therapie – der vierzehnten – vielen anderen geholfen hat, Sucht zu überwinden.
So beeindruckend und positiv seine Geschichten klingen: Rückschläge waren an der Tagesordnung. „Zwei von drei schaffen es bei uns, aber wir brauchen im Schnitt fünf Anläufe.“ Das Wichtigste sei, nie die Freude am Menschen zu verlieren. Und er zitiert Roger Schutz: „Ohne Barmherzigkeit ist alles verloren.“ und ergänzt: „Wer das Unverzeihliche verzeihen kann, ist der göttlichen Barmherzigkeit sehr nahe.“
Eine andere Erfahrung, die er ein Leben lang gemacht hat: Menschen, die zutiefst seelisch verwundet sind, testen oft aus, ob die Liebe echt ist. „Jede Provokation“, sagt Charly, „ist ein Schrei nach Liebe.“ Und: Ehrliches Interesse zu erfahren, ist für viele seiner Gäste schon etwas Außergewöhnliches. Einmal antwortete ihm ein Gast auf die Frage „Wie war’s in der Arbeit?“ mit: „Du Charly, ich glaub, du magst mich!“
„Wir verwenden das Wort Gott selten“, sagt Charly, „aber wenn jemand wissen will, was an der Basis unseres verrückten Handelns steht, dann sagen wir, was der Grund unserer Hoffnung ist.“ Für ihn ist klar: Gott kann Tote erwecken.

Wie hält man das alles ein Leben lang aus und baut gleichzeitig eine so große Struktur auf, ohne im Burnout zu landen? Charlys Antwort ist erneut geprägt von einer Kombination aus Professionalität und Spiritualität. „Das Milieu zieht dir unglaublich viel Energie ab. Ein starkes Netzwerk an Freunden war wichtig, um die Batterien wieder zu laden. Und die tägliche Eucharistie. Der spirituelle Bereich ist wichtig. Genauso wichtig ist professionelle Begleitung, wie etwa Einzeltherapie und Gruppentherapie.“
Seit sieben Jahren ist Charly inzwischen in Pension, doch sein Leben ist nach wie vor geprägt vom Einsatz für andere: als Vermittler, Vortragender und vieles mehr. Nach Ruhestand klingt das nicht. „Oh doch!“, kontert er: „Die Verantwortung ist weg! Ich schlafe wie ein Säugling, weil ich die Verantwortung abgegeben hab. Als Letztverantwortlicher hast du ja immer einen Ammenschlaf.“ Jetzt macht er viele Dinge, die sonst Ehrenamtliche machen: „Ich geh ins Gefängnis, in die Psychiatrie.“ Beim Pensionsantritt sagte jemand zu ihm: „Jetzt kannst du endlich das tun, was du immer schon tun wolltest.“
Manchmal wird Charly für ein paar Stunden aus der Pension zurückgeholt, um neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einzuschulen. Ihnen allen gibt er seine Botschaft mit auf den Weg: Wohnung, Arbeit, … das ist alles wichtig. Aber noch viel wichtiger ist, dass jede und jeder Hilfesuchende die Erfahrung machen kann: „Ich werde geliebt. Ich werde radikal angenommen ohne Vorurteil.“ Zeigen wir ihnen: „Du bist willkommen: Nutze die Chance!“
Nikolaus Link

Karl Rottenschlager: Hassen oder vergeben? Bausteine für eine geeinte Welt.
Karl Rottenschlager beschreibt im Buch das Entstehen und Wachsen der Emmausgemeinschaft und lässt zahlreiche Menschen zu Wort kommen, die Hass überwunden haben. Erfahrungsberichte veranschaulichen, wie gewaltfreie Konfliktlösung und universelle Geschwisterlichkeit Schlüssel zu einer Zivilisation der Liebe werden können. Ein Buch, das Mut zur Gestaltung der Welt und zum Wagnis einer Weggemeinschaft mit Ausgegrenzten macht. Es ist zum Preis von 18 Euro (plus Versandkosten) erhältlich unter https://shop.emmaus.at

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September/Oktober 2021)
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