7. Oktober 2021

Soziale Dienste auf Rezept

Von nst5

Offener Brief an Sean Fielding

Sehr geehrter Herr Fielding!

Soziale Dienste auf Rezept? Was haben denn Schuldenprobleme, Arbeitslosigkeit, soziale Isolation oder Identitätskrisen in Arztpraxen zu suchen? – Was nach Überschreitung von Zuständigkeiten klingt, erweist sich bei genauerem Hinsehen als sinnvoll, wenn nicht gar wegweisend! Am Anfang stand die Beobachtung, dass bei manchen Menschen, die über Schmerzen klagen, keine körperlichen Ursachen auszumachen sind. Und dass sie an Tagen, an denen sie soziale Angebote wahrnehmen, den Sprechstunden fernbleiben. Darüber haben Sie nachgedacht und dann das Projekt „Oldham Social Prescribing Innovation Partnership“ mit ins Leben gerufen. Es soll das Gesundheitssystem entlasten und Menschen langfristig helfen, die unter Einsamkeit leiden, deren körperliche oder seelisch-psychische Gesundheit wenig belastbar ist.
Oldham ist die Stadt mit der geringsten Lebenserwartung in Großbritannien: ein trauriger Rekord, gegen den Sie vorgehen wollten. Mit einer zunächst auf drei Jahre angelegten „Partnerschaft“ haben Sie dafür viele Akteure mit ins Boot geholt aus Gesundheitswesen und Ehrenamt, lokale Behörden, Polizei, Vermieter, soziale Hilfswerke, religiöse Gemeinschaften: Das hat ihr Zusammenspiel und damit ihren Dienst am Bürger spürbar verbessert.
„Social Prescribing“ meint die Verschreibung nichtmedizinischer Dienste. Arztpraxen können Patienten bei Bedarf an Verbindungspersonen weiterleiten. Diese versuchen im persönlichen Kontakt herauszufinden, wo die jeweilige Person Entwicklungspotenziale hat, welche Unterstützung sie braucht und was für Aktivitäten ihre Selbstständigkeit, Gesundheit und ihr Allgemeinbefinden verbessern. Ob Gärtnern, Kurse in Kochen oder gesunder Ernährung, körperliche Bewegung, kreativ-künstlerische oder sozial-ehrenamtliche Betätigung, Organisation von Kinderbetreuung; Hilfe bei Verschuldung, Trauerbewältigung oder Jobvermittlung; ob „Strick und Schwatz“-Angebote oder Frühstücksteams, die aus einer sozialen Isolation führen können – die Verbindungspersonen vermitteln die Betreffenden an andere Gruppen oder Einrichtungen weiter.
Schon in den ersten sieben Monaten wurden so in Oldham 300 Menschen unterstützt. Deren Besuche beim Hausarzt verringerten sich um 60 Prozent, bei notfallmedizinischen Zentren um 90 Prozent.
Ihr Projekt zieht Kreise: In Österreich stellt das Gesundheits- und Sozialministerium einem Bericht des „Standard“ zufolge neun Gruppenpraxen und gesundheitlichen Primärversorgungszentren in vier Bundesländern insgesamt 285 000 Euro zur Verfügung. Damit können sie sich Zeit nehmen, die sozialen, kulturellen und psychischen Bedürfnisse ihrer Patienten tiefer zu verstehen und Netzwerkarbeit zu betreiben, um auch nichtmedizinische Dienste zu „verschreiben“.
Hinter „Social Prescribing“ steckt das Bemühen, Menschen nicht nur als Patienten mit Defekten zu sehen, gegen die mit allen Mitteln der Medizin vorzugehen ist, sondern als soziale und kulturelle Wesen mit Leib und Seele. Das ist angesichts unserer teuren und auf Effektivität und Schnelligkeit getrimmten Gesundheitssysteme ein überraschendes Modell, das stärkere Verbreitung verdient!

Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr,
Redaktion NEUE STADT

Sean Fielding
31, war von Mai 2018 bis Mai 2021 Leiter des Stadtrats von Oldham. Zusammen mit seinem Team hat er sich für das Projekt „Oldham Social Prescribing Innovation Partnership“ eingesetzt, das 2020 mit dem „Innovation in Politics Award“ in der Kategorie „Gemeinschaft“ ausgezeichnet wurde. Oldham in der Nähe von Manchester in Nordwest-England hat rund 100 000 Einwohner.


(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September/Oktober 2021)
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