4. Februar 2022

Recht und Gerechtigkeit

Von nst5

Offener Brief an Hanna Suchocka

Sehr geehrte Frau Suchocka!
Rechtswissenschaft. Schon die Wahl Ihres Studienfaches in den 1960er-Jahren zeigt eines Ihrer großen Anliegen: Jedem Menschen Recht und Gerechtigkeit widerfahren lassen – eine Gesellschaft gestalten, die das ermöglicht und garantiert.
Seit 1968 waren Sie Mitglied in der mit der kommunistischen Regierung verbundenen Blockpartei SD („Demokratische Partei“), waren ab 1980 aber auch in der oppositionellen Gewerkschaft Solidarność aktiv. Sie sind selbst dann für Ihre Werte eingestanden, wenn das unbequeme Folgen hatte: Nachdem Sie Ende 1981 als Abgeordnete im Parlament Sejm gegen die Verhängung des Kriegsrechts gestimmt hatten, wurden Sie von den Listen der SD gestrichen. Sie haben sich gegen die damalige Staatsordnung und das Verbot unabhängiger Gewerkschaften stark gemacht. Sie haben den politischen Wandel in Polen mitgeprägt, den Wechsel von der kommunistischen Diktatur der Volksrepublik hin zur demokratischen Dritten Republik mit grundgelegt.
Kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden Sie in einer schwierigen Phase der polnischen Geschichte, in der Regierungen nur kurze Zeit Bestand hatten, Premierministerin. Obwohl nur 15 Monate im Amt, konnten Sie die Liberalisierung der Wirtschaft vorantreiben und eine demokratische Reform der Kommunalverwaltung durchsetzen. Ihr Horizont ging immer über Ihr eigenes Land hinaus: Ihre Vision war eine politische Ordnung, die andere Nationen Ostmitteleuropas einschließt, ein geeinteres Europa Ihre Leidenschaft.
„Den Staat als Gemeingut zu betrachten, für das wir uns alle verantwortlich fühlen, ist eine Lektion, die wir erst noch lernen müssen“, sagten Sie sinngemäß im Juni 2020 in Wrocław/Breslau, als Sie für Ihre Mitwirkung beim politischen Systemwechsel den Jan Nowak-Jeziorański-Preis erhielten. Und wir können ergänzen: Der Bedarf, diese Lektion wieder neu zu lernen, besteht heutzutage wohl gleichermaßen in Ost und West!
Als Rechtsprofessorin haben Sie immer wieder an Universitäten gelehrt. Wissen, Werte und Haltung an jüngere Generationen weiterzugeben, liegt Ihnen am Herzen.
Sie machen sich große Sorgen um Hate Speech, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, Diskriminierung aufgrund von Herkunft und Religion in Europa. Und Sie machen sich Gedanken, wie wir gegen diese gesellschaftszersetzenden Tendenzen angehen können. Auch Ihr Einsatz in der Päpstlichen Kommission gegen sexuellen Missbrauch Minderjähriger ist konsequenter Ausdruck Ihres Kampfes gegen Unrecht und für Recht und Gerechtigkeit.
Durchsetzungsvermögen, eine starke Verankerung im christlichen Glauben und Menschlichkeit kennzeichnen Sie. In Ihnen vereinen sich Politik und Wissenschaft. Beide sind in Ihnen verkörpert als Dienst an der Demokratie, ausgerichtet am Gemeinwohl aller Bürger eines Staates. Eines Staates, der sich nicht selbst genügt, sondern als Teil einer Staatengemeinschaft mit gegenseitigen Rechten und Pflichten verhält. Freiheit, Demokratie und die Achtung des Rechts sind für Sie hohe Güter. All das sind Eigenschaften, die heute beileibe nicht selbstverständlich sind und die wir uns von vielen Politikerinnen und Politikern wünschen!

Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr,
Redaktion NEUE STADT

Hanna Suchocka
1946 im polnischen Pleszew (Pleschen) geboren, war 1992/1993 die erste Premierministerin Polens. Die Juristin und Rechtsprofessorin war von 1997 bis 2000 Justizministerin und Staatsanwältin. Von 2001 bis 2013 vertrat sie Polen als Botschafterin beim Heiligen Stuhl. 2014 wurde sie in die Päpstliche Kommission für den Schutz von Minderjährigen berufen. Am 28. Januar wird ihr in Aachen der Klaus Hemmerle-Preis 2022 verliehen.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2022)
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