3. August 2022

Vielfältiger als gedacht

Von nst5

Offener Brief an Melanie Stein

Sehr geehrte Frau Stein!
Das Dumme an Klischees und Vorurteilen ist, dass wir es oft nicht bemerken, wenn wir ihnen erliegen: Sie werden Teil der Mentalität. Ostdeutsche können nicht Demokratie, sind fremdenfeindlich, gehen leicht Populisten auf den Leim; sie werden als Jammer-Ossis, Ewiggestrige, Pegida-Anhänger und AfD-Wähler etikettiert. In Mecklenburg aufgewachsen, wissen Sie nur zu gut, wie einseitig diese Sicht ist. Als sich 2019 viele Menschen wunderten, wie starke Unterschiede, wie viel Unkenntnis und Missverständnisse es dreißig Jahre nach der Öffnung der Berliner Mauer immer noch zwischen Ost und West gibt, wollten Sie dem etwas entgegensetzen: die andere Seite Ostdeutschlands sichtbar machen, seine Vielfalt zeigen, der Mehrheit eine Stimme geben.
„Wir sind der Osten“ heißt das Projekt, das Sie mit einem Team entwickelt haben. Es stellt Menschen vor, die sich einbringen, anpacken, mitgestalten. Eine Plattform für jene, die fortschrittlich denken, über Grenzen hinausgehen, andere motivieren wollen. Sie haben Menschen dazu gebracht, im Internet und auf Social-Media-Kanälen ihre Geschichten zu erzählen, Erfahrungen zu teilen, Ansichten darzulegen. Darunter überdurchschnittlich viele Journalisten, Gründerinnen, Unternehmer, Künstlerinnen, Referenten und Beraterinnen, aber auch Studenten, Rentnerinnen, Beamte und Handwerker, die Krankenschwester, die Zahntechnikerin, der Koch.
Als Journalistin ist Ihnen bewusst, dass an dem schiefen Bild von den Ostdeutschen auch die Medien mitgezeichnet haben. Noch immer finden sich dort hauptsächlich Westdeutsche in den Führungsetagen; in der Berichterstattung kommen ostdeutsche Perspektiven zu wenig vor. Wenn, dann taucht der Osten eher als Problemkind auf: wenn es um die Wirtschaft oder Rechtsextremismus geht. Kein Wunder, dass viele Menschen im Osten das Vertrauen in die Medien verloren haben, wenn sie sich darin nicht vertreten fühlen!
Eine andere Perspektive bringen die Biografien und Antworten der Frauen und Männer Ihres Projekts. Darunter solche, die im Osten geblieben, jene, die in den Westen gegangen, und andere, die zurückgekommen sind. Menschen, die in westlichen Bundesländern oder im Ausland aufgewachsen und in Ostdeutschland heimisch geworden sind, kommen in der Kategorie „Rübergemacht“ zu Wort. Vertreten sind jene im Osten, für die die Wiedervereinigung radikale Brüche zur Folge hatte: Während im Westen das Leben ungerührt weiterlief, wurden sie arbeitslos, mussten Bekanntes und Gewohntes aufgeben, verloren Hab und Gut, weil Wildfremde plötzlich ihr Eigentum beanspruchten. Was sie geprägt hat, was sie zu sagen haben, ist eindrücklich und stimmt nachdenklich!
„Wir sind der Osten“ zeigt: Den Osten gibt es nicht – so wie es den Westen nicht gibt. Manche sind stolz, Ostdeutsche zu sein, andere können mit dieser Kategorie gar nichts anfangen. Ihr Projekt hält Überraschungen parat, schafft Verständnis und füllt Bildungslücken. Es gibt dem Osten ein Gesicht, vielfältige Gesichter, und stößt an, ein beengtes Denken zu überwinden. Und wer bei der Frage, was man von den anderen lernen kann, bisher nur mit den Schultern zuckt, wird staunen, wie viele Antworten er findet.

Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr,

Redaktion NEUE STADT

Melanie Stein
in Brandenburg geboren und nahe Rostock aufgewachsen, ist Journalistin, Moderatorin, Produzentin und Diplom-Psychologin. 2019 rief sie das Projekt „Wir sind der Osten“ ins Leben, unter anderem mit Christian Bollert von detektor.fm und Lutz Mache von Google. Es zeigt die Vielfalt der Menschen in Ostdeutschland und wurde 2020 von der Bundeszentrale für politische Bildung mit dem Bürgerpreis zur deutschen Einheit ausgezeichnet. Mittlerweile über 500 Personen zeigen Gesicht und stehen Rede und Antwort auf
wirsindderosten.de

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2022)
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