5. April 2023

Genügsamer, freudiger Geber

Von nst5

Offener Brief an Alan Thomson

Sehr geehrter Herr Thomson!

Verschwenderisch bin ich nicht. Ich überlege gut, wofür ich Geld ausgebe, ob ich etwas wirklich brauche, und halte mich für einigermaßen genügsam. Aber ich muss zugeben, mich an einen Lebensstil gewöhnt zu haben, den ich – zumindest in unserer Gesellschaft – für selbstverständlich halte. Dazu gehört es, gelegentlich essen zu gehen und einmal im Jahr in den Urlaub zu fahren. Könnte ich mit so wenig Geld auskommen wie Sie? Und wenn ich es notgedrungen müsste: Könnte ich damit so glücklich sein wie Sie? Könnte ich so großherzig sein? Eine Leserin aus Münster hat mir einen Zeitungsartikel über Sie geschickt, der mich nachdenklich gemacht hat!
Sie scheinen es im Leben nicht leicht gehabt zu haben: Nach Ihrer Zeit bei der Army sind Sie mit einer Drückerkolonne von Haus zu Haus gezogen, um Bücher zu verkaufen. Nach weiteren kleinen Jobs landeten Sie zeitweilig auf der Straße. Ihre Kleidung hat schon bessere Tage gesehen; manche Passanten halten Sie für einen Wohnungslosen. Eine Tätigkeit beim städtischen Grünflächenamt war für Sie „die einzige Arbeit, die mir je Spaß gemacht hat.“
Dank dieser Arbeit beziehen Sie eine kleine Rente; und Sie bekommen Wohngeld für eine kleine Sozialwohnung – für Sie ein „Palast“! – „Womit habe ich das verdient?“ Seitdem Sie dort wohnen dürfen, haben Sie es sich zur Aufgabe gemacht, Bedürftigen zu helfen. Sie spenden eine weitere kleine Rente von der britischen Armee regelmäßig der Welthungerhilfe. Seit November ziehen Sie mit einem alten Fahrrad herum, mit Taschen und Körben behängt, und sammeln Pfandflaschen. Von dem Geld, das Sie dafür erhalten, stecken Sie immer wieder mal 100 Euro in die Spendendose des Münsteraner Ladenlokals der Hilfsorganisation Oxfam. Sie sagen, Sie brauchen es nicht, leben von Nahrungsmitteln, die die Geschäfte nicht mehr verkaufen können. Ihnen reichen im Monat 50 Euro zum Leben und davon gönnen Sie sich auch mal einen Schluck Wein oder ein paar Zigaretten.
Sie erwarten nicht, dass andere Menschen auch so genügsam und selbstlos leben wie Sie: „Das muss jeder selbst wissen!“ Sie wollen kein Held sein! Und doch: Ihre Dankbarkeit für das Wenige, was Sie haben, Ihre Zufriedenheit mit dem, wie Sie leben, Ihre Genügsamkeit, Ihr Blick für die Nöte anderer, Ihr Engagement für Bedürftige, Ihr selbstloses Geben beschämen mich. Ihr Lebensentwurf wirft in mir Fragen auf: Bin ich mir bewusst, dass vieles, was ich habe und erleben darf, unverdient ist? Bin ich dankbar dafür? Nehme ich die Not meiner Mitmenschen wahr? Was tue ich dafür, sie zu lindern? Was sind mir diese Menschen wert? Oder sind sie mir egal? Worauf bin ich bereit zu verzichten? Und was gebe ich tatsächlich auf? Was gebe ich ab, was teile ich? Woran hänge ich?
Ich bewundere Ihre Bescheidenheit, Dankbarkeit und Zufriedenheit! Und ich bin Ihnen dankbar für den Anstoß, den mir Ihre Einstellung und Ihr Lebensstil geben! Sie stehen dem gängigen Habenmüssen, Konsum- und Leistungsdenken so völlig entgegen! Mein herzlicher Wunsch: dass Sie von den vielen Menschen, denen Sie Gutes tun und denen Sie begegnen, Anerkennung und Dankbarkeit zurückbekommen!

Mit freundlichen Grüßen

Clemens Behr,
Redaktion NEUE STADT

Foto: (c) Lucie Berger

Alan Thomson
72, gebürtiger Schotte, kam als 21-Jähriger mit der britischen Armee ins westfälische Lippstadt. Nach fünf Jahren verließ er den Dienst beim Militär und schlug sich mit unterschiedlichen Jobs durch. Heute ist er Rentner und lebt in Münster – extrem sparsam, aber großherzig.




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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, März/April 2023.
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