3. April 2023

Rus

Von nst5

Der russische Präsident Wladimir Putin

sieht die Ukraine als zu Russland gehörig und bezieht sich dabei auf die „Kiewer Rus“. Was hat es damit auf sich?

Was bedeutet „Rus“?
Die Rus waren ein skandinavisches Volk von Kriegern und Kaufleuten, das in slawisches Gebiet einwanderte und es von Kiew aus regierte. Dieses nordische Volk vermischte sich rasch mit der lokalen Bevölkerung. Das „Land der Rus von Kiew“ oder die „Kiewer Rus“ war von 862 bis 1242 eine lockere Föderation von Fürstentümern auf dem heutigen Gebiet der Ukraine, von Belarus und Teilen Russlands. Diese drei Länder sehen die Rus alle als ihren Vorläuferstaat, Ursprung ihrer nationalen Geschichte und Identität. Ihr Kerngebiet erstreckte sich um den Fluss Dn(j)epr vom Hauptort Kiew im Süden bis nach Nowgorod als kulturellem Zentrum im Norden. Als Erster regierte von 862 bis 879 der skandinavische Anführer Rurik. Er begründete die Dynastie der Rurikiden, die über Eheschließungen mit anderen europäischen Königshäusern Verbindungen schuf und bis zur Herrschaft von Iwan dem Schrecklichen (1547 bis 1584) Bestand hatte.

Was passierte nach der Blütezeit der Kiewer Rus? 
Schon im 12. Jahrhundert schwächte sich der Zusammenhalt; ein Prozess der Zersplitterung begann. 1237 bis 1242 fiel die Kiewer Rus an die Mongolen (Tataren) und ihnen waren die Fürsten über 150 Jahre lang tributpflichtig. Aus den Teilen der Rus gingen später die drei verschiedenen Staaten hervor. In den Namen „Russland“ und „Belarus“ ist der Begriff erhalten geblieben. Ein zentrales Datum für die Christianisierung der Rus ist das Jahr 988, als sich Großfürst Wladimir der Große taufen ließ. Moskau wurde 1350 Zentrum eines russischen Fürstentums und nahm unter den nördlichen Fürstentümern eine Vormachtstellung ein. Die Kiewer Rus büßte stark an Bedeutung ein und wurde schließlich Ukraina – Grenzland genannt.

Welche Bedeutung hat die Rus heute für Russland und die Ukraine?
Die Kiewer Rus wurde zu einem Gründungsmythos von Russland und der Ukraine sowie ihrer jeweiligen orthodoxen Kirchen. Um die richtige Interpretation streiten Historiker beider Nationen seit über zwei Jahrhunderten. Die russische Sicht betont die Fortdauer von Dynastie und Kirchenorganisation und versteht die Ukraine als Teil der eigenen Nationalgeschichte. Die Ukraine hingegen sieht sich mit ihrem Zentrum Kiew als geographisches Erbe und mit ihrer Bevölkerung als eigenen, von Russland historisch getrennten Nachfolgestaat.

Wie stehen westliche Historiker dazu?
Sie sehen in der Kiewer Rus ein multiethnisches Reich mit slawischen, finno-ugrischen und turksprachigen Volksgruppen, bei dem noch nicht von Russen und Ukrainern gesprochen werden könne. Weder ließe sich die damalige Führungsrolle Moskaus automatisch auf heutige Verhältnisse übertragen noch aus der gemeinsamen Wurzel eine fortdauernde Zusammengehörigkeit der Staaten herleiten. Heutige nationale Kategorien würden auf das Mittelalter übertragen und führten zu falschen Schlüssen. Auf diese Weise und durch eine einseitige Auswahl bestimmter Aspekte der Geschichte würde diese für heutige politische Ziele instrumentalisiert.
Clemens Behr


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, März/April 2023.
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