2. Juni 2023

Da sein, wo keiner sein will

Von nst5

Nach zwölf Jahren Krieg

sind die meisten Ausländer weggegangen und auch viele Syrer haben das Land verlassen. Trotzdem lebt der Belgier Bernard Keutgens seit fünf Jahren in Aleppo.

„Hier unser Wohnzimmer. Direkt daneben die Küche.“ Lachend weist Bernard Keutgens auf ein paar Tassen und Teller hin, die in der Spüle stehen: „Man müsste noch abspülen. Wenn du willst …“ Noch immer lachend dreht er sich dann um und die Kamera seines Computers schwenkt durch den Raum, während er mir virtuell weiter sein Zuhause zeigt. Mit ein paar Schritten geht er durch eine Tür ins Freie: „So kommen wir direkt hinaus in den Garten. Es ist eine kleine, aber schöne Ecke.“
Wir sind per Video-Konferenz verbunden, und der Belgier führt mich zu Beginn unseres Gesprächs durch die Wohnung im Erdgeschoss eines siebenstöckigen Gebäudes am Stadtrand von Aleppo im Norden Syriens. Hier lebt er seit gut fünf Jahren in einer Fokolargemeinschaft.

Alle Fotos: privat

Es ist Mitte März und seit dem verheerenden Erdbeben am 6. Februar sind nur wenige Wochen vergangen. „Unser Haus ist nicht beschädigt“, versichert Bernard Keutgens, während er wieder zurück ins Wohnzimmer geht und sich setzt. „Aber auch wir waren in jener Nacht innerhalb kürzester Zeit alle draußen in der Gartenecke. Wer im fünften oder sechsten Stock wohnt, braucht da natürlich viel länger. Im Stadtzentrum haben viele es von dort dann nicht geschafft, sich rechtzeitig ins Freie zu retten.“
Das dramatische Erdbeben hat den Norden des Landes und die Menschen hier schwer getroffen. „In diesen schrecklichen Stunden war jeder mit seinen größten Ängsten konfrontiert, hatte den Tod vor Augen.“
Am Morgen danach machte sich Bernard Keutgens mit einem seiner Mitbewohner im strömenden Regen auf den Weg ins Stadtzentrum. „Sofort konnten wir die Ausmaße der Katastrophe erahnen: überall heruntergefallene Dächer und Balkone, zerstörte Autos, abgerissene Stromleitungen und dann, im Zentrum, die ersten völlig zusammengestürzten Häuser. Hunderte Menschen standen geschockt und schweigend zusammen. Unter den Trümmern befanden sich Verschüttete.“ Trotzdem hörte Bernard Keutgens immer wieder: „Zum Glück leben wir noch.“
Die Kirchen und kirchlichen Einrichtungen im Zentrum waren über Nacht zu einem Zufluchtsort geworden. So hatten in einer Schule der Salesianer schon am frühen Morgen 400 Geflüchtete Unterschlupf gesucht. „Zu diesem Zeitpunkt waren wir uns noch nicht bewusst, was uns in den nächsten Stunden und Tagen erwarten würde. Wir erlebten Nachbeben, die uns ständig in neue Panik versetzten.“ Weil sie Angst vor dem Einsturz ihres Hauses hatten, brachten sich viele – oft ohne Hab und Gut – irgendwo in Sicherheit. Und auch jetzt, so erzählt mein Gesprächspartner ernst, gibt es immer noch Menschen, die noch nicht den Mut gefunden haben, in ihre Häuser zurückzugehen.
Bernard Keutgens stammt aus Eupen, einer kleinen Stadt in Ostbelgien, nicht einmal 20 Kilometer südlich von Aachen in einer kleinen deutschsprachigen Region des Landes. Bis 2015 hatte er fast sein ganzes Leben in Belgien verbracht. Er ist Psychotherapeut, hatte in seinem Heimatland in seinem Beruf gearbeitet und in verschiedenen Fokolargemeinschaften gelebt. Zuletzt war er mitverantwortlich für die Fokolar-Bewegung in Belgien. Dann ergab sich die Möglichkeit, „noch einmal etwas ganz anderes zu sehen und zu hören“ und in eine Fokolargemeinschaft in Jordanien zu wechseln. Der 66-Jährige erinnert sich: „Und das in meinem Alter! Ich fand das total interessant. Raus aus Europa.“

Zwei Jahre nach diesem Wechsel verbrachte der Belgier seine Ferien in Aleppo. „Was ich bis dahin über Kriege gehört hatte, bekam hier eine ganz neue Dimension“, erinnert er sich an seine ersten Eindrücke. „Gleichzeitig hatte ich noch nie eine solche Gastfreundschaft erlebt. „Und”, so gesteht er, „ich war völlig überrascht von der Kultur des Landes.“ Schnell nahm er aber auch wahr, dass er zu den wenigen ausländischen Personen gehörte, die sich noch in Syrien aufhielten. Die meisten hatten das Land zu diesem Zeitpunkt schon verlassen. Auch viele Syrer.
Seit 50 Jahren ist die Fokolar-Bewegung in Syrien. Etwa 700 Personen fühlen sich der Spiritualität und dem Lebensstil verbunden. Bernard Keutgens hatte sich auch angesichts dieser Menschen gefragt: „Kann ich für sie nicht wenigstens ein kleines Zeichen setzen?“ Helfen schien ihm ein zu bedeutsames Wort, „denn hier kannst du nur wenig ausrichten. Aber zumindest da sein, wo keiner mehr sein wollte.“
Er ist in Aleppo geblieben. „Viele meinen, ich sei hier in den größten Schwierigkeiten. Aber das ist nicht der Fall“, sagt er mit Nachdruck. „Hier ist Leben. Hier kann man sich bewegen. Manchmal ist man hier vielleicht sogar sicherer als anderswo.“ Natürlich nur, solange er sich „an die Regeln hält“. Seine Aufenthaltsgenehmigung gilt nämlich nur für die von der Regierung kontrollierten Gebiete. „In die anderen kann ich nicht. Das wäre gefährlich. Nördlicher als Aleppo bin ich deshalb noch nicht gewesen.“
Selbstverständlich, so räumt Bernard Keutgens ein, erlebt er im Alltag auch Einschränkungen. „Als ich vor Kurzem einmal all das aufschreiben wollte, was einem so auf den Wecker gehen kann, bin ich ohne Schwierigkeit auf 60, 70 Dinge gekommen: das Internet, das nie sicher ist, die fehlende Elektrizität, zu wenig Licht, kein Heizöl … Und wenn dann morgens kein Gas da ist, kannst du nicht mal einen Kaffee trinken. Dann muss ein Glas Wasser genügen.“ Jetzt, nach dem Erdbeben, ist die Gefahr groß, dass Seuchen ausbrechen. Die Infrastruktur war auch vor der Naturkatastrophe „längst am Boden“. Deshalb kann das Land nicht einmal mehr eine grundlegende Gesundheitsversorgung gewährleisten.
Als der Belgier in Syrien ankam, konnte er kaum glauben, dass es dort einmal alles gegeben hatte. „Manchmal sagten sie, sie hätten hier wie im Paradies gelebt. Das konnte ich mir echt nicht vorstellen. Aber das Land hatte vor dem Krieg ja nicht einmal Auslandsschulden. Und von so etwas können wir in Europa nur träumen.“

Bernard Keutgens hat nicht nur deshalb eine ganz andere Seite des Lebens kennengelernt. „Wir Europäer wollen immer alles unter Kontrolle haben. Aber hier hat man nur wenig unter Kontrolle. Es gibt gerade kein Internet? – Okay! Dann ist das jetzt nicht dran.“ Während er das sagt, wirkt er ernst, ein wenig nachdenklich. Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Aber vielleicht sieht man so deutlicher, wo Gott eingreift.“
Keutgens arbeitet in Aleppo als Familientherapeut. Sprachlich sei das kein Problem für ihn, „vielleicht für die anderen“, schiebt er mit dem ihm eigenen verschmitzten Humor hinterher. „Nein, im Ernst: Aleppo war eine Kulturstadt. Hier wurde sehr viel Französisch gesprochen, und ich finde noch immer Leute, die mich verstehen und übersetzen. Bei der Arbeit geht es oft auf Englisch. Und die Grundbegriffe verstehe ich inzwischen auch in Arabisch. Damit kann ich mich im Taxi und in den Geschäften verständigen.“
Bei seiner Arbeit in verschiedenen Quartieren der Stadt bemerkt er eindrücklich, dass nach zwölf Jahren Krieg nicht nur die Infrastruktur zerstört ist: „Auch die Vergangenheit, die Werte, …! Alles ist zusammengebrochen! Auch im Inneren der Menschen.“ Um das wieder aufzurichten, so ist er überzeugt, brauche es deutlich mehr Zeit als für die Häuser. Die Kriegsereignisse haben bei denen, die geblieben sind, an den Kräften gezehrt – „bei den Menschen, in ihren Beziehungen untereinander und der verschiedenen Gruppen miteinander.“ Der Therapeut staunt aber gleichzeitig, dass die Menschen trotzdem die Kraft finden, immer wieder aufzustehen. „Das geht nur, wenn du große innere Ressourcen hast. Und ich meine, dass das auch bedingt ist durch die Kultur, den Gemeinsinn, die Familienbande, die Freundschaften, … Hier ist das Gesellschaftsgefüge ganz anders als in Europa, wo vieles individualistisch geprägt ist. Aber“, so unterstreicht er noch einmal, „nach zwölf Jahren kommen auch diese starken inneren Reserven an ihre Grenzen.“ Er kann deshalb nachvollziehen, warum viele weggegangen sind.
Seit über elf Jahren unterhält die Fokolar-Bewegung 15 Projekte und Hilfsmaßnahmen in Homs, Hama, Damaskus, Aleppo, Banias, Tartus und Latakia, darunter auch fünf Bildungszentren für Kinder, Jugendliche und schwerbehinderte Kinder, Projekte für Menschen mit chronischen Krankheiten, andere zur Berufsausbildung von Haushaltshilfen für ältere Menschen und von Klempnern sowie Stickerei- und Kochkurse. „So konnten wir rund 200 Arbeitsplätze schaffen und mehr als 10 000 Menschen unterstützen.“ Vor zwei Jahren begann das Programm „Restart“, das durch Mikrokredite mehr als 50 Menschen die Möglichkeit gab, sich selbstständig zu machen und für ihren Unterhalt zu sorgen.

Jetzt nach dem Beben gehe es vor allem darum, den Menschen Räume zu eröffnen, über das Erlebte zu sprechen. „Jeder möchte den Schock vergessen, verdrängen, obwohl er sehr tief sitzt. Und es geht oft einfach nur darum zuzuhören, Nähe zu zeigen, da zu sein.“
Die Angehörigen und Freunde der Bewegung in Aleppo konnten sich recht schnell nach jenen ersten dramatischen Tagen treffen und gemeinsam verstehen, was am dringendsten gebraucht wird. „Es war schön, dass wir allen auch einen kleinen Betrag geben konnten. 50 Euro, das ist für sie eine Menge. Das Geld war über das Netzwerk der Bewegung als Soforthilfe hier angekommen. Sie haben sich so als Teil einer großen weltweiten Familie empfunden, die sie nicht vergisst. Das war das allerwichtigste für sie!“ Und obwohl das auch für Bernard Keutgens ein eindrückliches Erlebnis war, verhehlt er nicht, dass es aus seiner Sicht mehr staatliche und internationale Hilfe bräuchte. „Am allermeisten würde helfen, wenn das Embargo aufgehoben würde. Es soll zwar das System treffen und Unterdrückung unterbinden, letztlich leidet darunter aber vor allem die Bevölkerung.“
Inzwischen sprechen wir schon über 30 Minuten. Noch gibt es Internet, sagt Keutgens, als ich nachhake, ob ich eine letzte Frage stellen kann. Wie es ihm mit diesen ständigen prekären Situationen persönlich gehe? „Man denkt angesichts der Umstände hier natürlich auch über das eigene Leben nach. Als Psychotherapeut habe ich mich ja berufsbedingt oft mit meiner eigenen Person beschäftigt. Aber hier scheint das gar nicht mehr so wichtig oder zumindest einseitig. Mir wird immer klarer: Mein Leben ist ein Weg mit Jesus und mit vielen Menschen. Diese Begegnungen haben mich zu dem gemacht, der ich bin. Das erlebe ich auch hier. Vielleicht stärker als je zuvor. Auch jetzt noch denke ich oft, dass ich hier nicht viel machen kann. In letzter Zeit steht mir oft das Bild von Maria unter dem Kreuz vor Augen: Auch sie, die Mutter Jesu, konnte das Geschehen nicht aufhalten, konnte die Soldaten nicht aufhalten. Trotzdem war Maria wichtig für Jesus: Sie hat ihn nicht alleingelassen. Und wenn ich durch die Straßen hier in Aleppo gehe, dann kann ich den Menschen wenigstens mit kleinen Zeichen zeigen: Ich bin da! Ich nehme dich wahr. Auch wenn ich nicht viel machen kann.“
Gabi Ballweg


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Mai/Juni 2023.
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