Wo ist unser Platz?
Nach 40 Jahren in Hannover ist das Frauenfokolar nach Bremerhaven umgezogen.
Wie es dazu kam.
Wie können wir unser Christsein so leben, dass Menschen von Gott und seiner Botschaft angezogen werden? – Diese Frage stellen sich in der aktuellen gesellschaftlichen und kirchlichen Lage viele Christen. Auch in der Fokolar-Bewegung sind sie immer wieder Thema. Nach dem Tod der Gründerin Chiara Lubich im Jahr 2008 ist dort ein Prozess in Gang, den Experten als „notwendig“ im Übergang von der Gründungs- zur Nachgründerzeit beschreiben. Oft geht es dabei auch darum, sich von bisher Vertrautem und Bewährtem zu lösen und gewachsene Strukturen daraufhin zu überdenken, ob sie dem Leben dienen oder es erschweren.
Ingrid Bäuml, Gaudia Drochner und Christa Schmölz sind Fokolarinnen, die unverheiratet in Gemeinschaft zusammenleben (s. unten Info-Kasten). Schon vor etlichen Jahren hatten sie unabhängig voneinander die Entscheidung getroffen, Gott ihr Leben zur Verfügung zu stellen: damit Geschwisterlichkeit, Miteinander und Dialog möglich und erfahrbar werden. Jede von ihnen hatte schon verschiedene Etappen hinter sich, als sie dann vor fünf Jahren im Fokolar in Hannover zusammentrafen, wo sie bis Dezember 2022 wohnten.
Zum 1. Januar 2023 sind sie nach Bremerhaven umgezogen. Die Hafenstadt an der Nordseeküste mit etwa 112 000 Einwohnern weist seit Jahren eine der höchsten Arbeitslosenquoten in Deutschland auf und ist nicht gerade bekannt für blühende geistliche Gemeinschaften. Aber genau das waren für die drei Frauen entscheidende Faktoren, dorthin zu ziehen.
Was war geschehen? „Wir drei hatten uns einmal im Jahr Zeit genommen, uns zu fragen, welche Kontakte wir haben, wo wir stehen, wo Neues aufbricht und was wir weiterverfolgen möchten“, erzählt Ingrid Bäuml. „Sind wir – jede persönlich und alle gemeinsam – am richtigen Platz? Können wir das verwirklichen, wofür wir vor Jahren alles auf eine Karte gesetzt haben?“
Das Frauenfokolar war vor 40 Jahren in Hannover eröffnet worden. Wie überall, wo sich in dieser Anfangszeit die „Spiritualität der Einheit” in einer Region ausbreitete, hatten die Fokolarinnen und Fokolare ihre Aufgabe darin gesehen, diesen Lebensstil unter Familien, Jugendlichen, Priestern, Alleinstehenden und Ordenschristen zu fördern. Viele Menschen wuchsen so im Lauf der Jahre in die Spiritualität hinein, fanden ihren Platz in der Bewegung und gaben dieses Leben weiter. Die so entstandenen lokalen Gemeinschaften waren zunächst stark auf die Fokolargemeinschaften hin ausgerichtet. Aber in den vergangenen Jahren sind sie selbstständiger geworden. Auch rund um das Fokolar in Hannover. „Es gab gute Beziehungen innerhalb der Fokolar-Bewegung und zugleich hatten wir als Wohngemeinschaft schon seit längerem einen größeren Freiraum. Das Leben unter uns war okay, aber wie sah das Zeugnis unseres Lebens in unserem sozialen Umfeld aus?“
Die drei haben zunächst versucht, sich in ihrer Nachbarschaft und im Stadtviertel einzubringen und neue Kontakte zu knüpfen. Aber das hat nicht gezündet. „Liegt es an uns? Machen wir etwas falsch?“, hatten sie sich in dieser Phase gefragt und gestehen, dass es „eine gewisse Demut“ erfordert habe, sich dem zu stellen. All das kam auch in einem Gespräch mit der Mit-Verantwortlichen der Bewegung für Deutschland, Österreich und die Schweiz zur Sprache. Offen und ehrlich. Deren Reaktion: „Habt ihr schon einmal daran gedacht, euren Wohnsitz zu wechseln?“ Das hat die drei überrascht, „darauf waren wir noch gar nicht gekommen. Zwar hatten wir von ähnlichen Schritten anderer Fokolare gehört, aber ihn für uns noch nie in Erwägung gezogen.“
Sie freundeten sich sofort mit dem Gedanken an. Genauso schnell war ihnen klar, dass sie in Norddeutschland bleiben wollten, „in einer kleineren Stadt, wo es weniger anonym zugeht.“ Wenn sie danach in ihrem „Einzugsbereich“ unterwegs waren – etwa in Hildesheim, Göttingen, Braunschweig – begannen sie sich zu fragen: „Kann es sein, dass Gott uns hierher ruft?“ Bei einer Begegnung mit einem Priester, Christian Hennecke, fragte er sie spontan: „Habt ihr schon an Bremerhaven gedacht?“ Tatsächlich hatten sie die Stadt gar nicht auf dem Schirm. Aber es gab einen Anknüpfungspunkt: Seit zwei Jahren lebte dort Marcus Scheiermann, ein der Fokolar-Bewegung verbundener Priester. Sie kannten ihn bis dahin nicht, nahmen kurzentschlossen Kontakt auf und machten einen Ausflug nach Bremerhaven. Sie ließen sich von ihm die Stadt zeigen, kamen mit ihm über vieles ins Gespräch und als sie abends zurückfuhren, wussten sie: „Das ist es!“
Was zunächst „einfach ein gutes Gefühl“ war, haben sie dann „unterfüttert“. So stellten sie fest, dass es in der Stadt noch keine geistlichen Gemeinschaften gab. Möglichkeiten, sich sozial zu engagieren, waren zweifellos gegeben. Mit vier, fünf ihnen bekannten Personen hatten sie erste Anlaufstellen. Eine Wohnung „fiel uns quasi schon beim ersten Besuch in den Schoß“. Die für die Renovierung benötigte Zeit erwies sich als genau richtig, um den Wegzug aus Hannover mit den Menschen der Gemeinschaft dort vorzubereiten.
Durch Anrufe, mit Briefen und bei persönlichen Begegnungen erzählten sie von ihrer Situation und ihren Fragen, die sie zu diesem Schritt bewogen hatten. „Viele waren sehr offen und haben uns von Anfang an ermutigt.“ Auch die Verheirateten, die zu ihrer Fokolargemeinschaft gehören, bestärkten sie sehr, „obwohl sich die eine oder andere auch hätte vorstellen können, dass wir in ihre Stadt ziehen.“
Zugleich gab es auch Nachfragen. „Mit unserem Haus verbanden viele wichtige Begegnungen. Auch wenn die Entfernungen jetzt für einige zu groß waren oder die Treffen anderswo stattfanden. Es war uns wichtig, deutlich zu machen, dass die persönlichen Beziehungen auch nach einem Umzug nicht abreißen würden.“
Zugleich mussten die drei einiges aufgeben. Wie etwa ihre Arbeitsstellen. Für Gaudia Drochner war es noch am einfachsten, weil sie als Juristin überwiegend im Homeoffice arbeitet. Die anderen beiden kündigten ein halbes Jahr vor dem geplanten Umzugstermin, ohne bereits eine feste Zusage zu haben. Für Christa Schmölz, Erzieherin, ergab sich dann „fast ein Traumjob“ in einem Projekt der Caritas, das sie jetzt aufbauen und mitgestalten kann. Für Ingrid Bäuml war es spannender: Sie war optimistisch an die Arbeitssuche gegangen, hatte aber bis einen Monat vor dem Umzug noch nichts gefunden. Die Aussicht auf Arbeitslosigkeit „war für mich schlimm“. Dann erfuhr sie, dass in einer Caritasgeschäftsstelle jemand in der Verwaltung gebraucht wurde. Dort konnte sie zum 1. Januar anfangen.
Dass sie zu zweit bei der Caritas untergekommen sind, erleben die beiden Frauen nach den ersten Monaten in Bremerhaven als Chance: „Schon bei der ersten Dienstbesprechung wurden wir gebeten, von uns und unserem Leben zu erzählen.“ Auch in den katholischen Pfarreien haben die drei Frauen schon gute Kontakte geknüpft und ihr Terminkalender ist recht voll geworden. Sie werden wahrgenommen und manchmal auch nach ihren Programmen und Zielen gefragt. „Aber die haben wir nicht“, unterstreicht Gaudia Drochner. „Wir sind mit einer erwartungsvollen Spannung hier. Wer weiß, was sich ergibt; wo Gott uns hinführt und welche Wege er uns zeigt. Es war bis hierher ein Prozess – und der geht jetzt noch weiter.“ Zunächst einmal damit, dass eine vierte Fokolarin zu ihnen stößt.
Gabi Ballweg
Das Fokolar
ist eine Lebensgemeinschaft von unverheirateten und verheirateten Frauen oder Männern, den Fokolarinnen oder Fokolaren. Sie leben für Gott und ganz bewusst mitten in der Welt: in Wohnungen, im Beruf, in der Nachbarschaft. Die Grundlage ihres Zusammenlebens ist die gegenseitige Liebe und der Wunsch, so die Gegenwart Gottes in allen Aspekten des Lebens erfahrbar zu machen (vgl. Matthäus 18,20 und Johannes 15,30). Verheiratete leben in ihren Familien und nehmen doch ganz am Leben des Fokolars teil. Der Name geht zurück auf die Entstehung in Trient: Dort empfanden die Menschen die Gemeinschaft der ersten Fokolarinnen um Chiara Lubich als „focolare“, die zentrale Feuerstelle in den Häusern, die Wärme und Licht schenkt.
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Mai/Juni 2023.
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