1. Juni 2023

Gemeinsame Suchbewegung

Von nst5

„In der Familie, im Freundeskreis oder bei der Arbeit:

Immer wieder gibt es Situationen, in denen man entscheiden muss, ob man sich durchsetzt oder nachgibt. Gibt es Anhaltspunkte dafür, was in einer bestimmten Situation richtig ist?“

Alice Varone
Studentin, Winterthur
Die Weisheit zu schweigen. Der Mut, für seine Werte einzustehen. Das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Tugenden zu finden, ist nicht einfach und bringt uns manchmal in heikle Situationen. Wie reagiere ich, wenn ich anderer Meinung bin als mein Gegenüber?
Gerade in solchen Momenten ist meine innere Haltung entscheidend. Gelingt es mir, mich in die Lage des anderen zu versetzen, um ihre oder seine Position zu verstehen? Natürlich gibt es Situationen, wo es notwendig ist, sich durchzusetzen: Wir müssen unsere Bedürfnisse erkennen und dafür sorgen, dass sie ernst genommen werden. Bei Meinungsverschiedenheiten ist es aber genauso wichtig, den Gesprächspartner zu respektieren. Nachzugeben ermöglicht uns, gegenseitig in der Demut zu wachsen und gemeinsam auf dem Weg zur Wahrheit voranzuschreiten.
An der Universität bin ich es gewohnt, allein und effizient zu arbeiten. Ich mag es, wenn ich in meinem eigenen Tempo vorankommen kann. Bei Gruppenarbeiten finde ich das etwas schwieriger. Nach und nach lerne ich, die Arbeitsweise meiner Kollegen zu akzeptieren. Ich nehme mir die Zeit, unsere Arbeit mit ihnen zusammen zu schreiben. So findet jede und jeder Platz und die Motivation zur Zusammenarbeit.

Andreas Bolkart
Diakon und Mediator, Zürich
Immer wieder stehe ich vor der Situation, entscheiden zu müssen, und immer wieder sind dabei auch meine Mitmenschen betroffen. Wenn ich ehrlich bin zu mir, dann habe ich oftmals bereits einen Vorentscheid gefällt, bevor ich beginne, aktiv darüber nachzudenken.
Ich habe vor einiger Zeit einen spannenden Vorsatz gefasst: „Wenn es eben möglich ist, verzichte ich darauf, mich durchzusetzen, sondern lasse Entscheidungen wachsen.“
Ich lege meine Ansicht in die Mitte, was bedeutet, dass sie mir danach nicht mehr gehört. Ich gebe bewusst mein Eigentumsrecht ab. Warum? Weil ich darauf vertrauen will, dass aus der Mitte eine Entscheidung entstehen wird, die die Ansicht der Einzelnen übertrifft und vielleicht sogar zu einem Ergebnis führen wird, auf das keiner von uns im Team allein gekommen wäre. Ein solcher Weg eröffnet einen Raum, der allen gehört, weil er von allen geschaffen wurde. Die Ideen aller füllen diesen Raum, und es beginnt eine Dynamik, die von einer gemeinsamen Suchbewegung in die gleiche Richtung geprägt ist.
Natürlich hängt vieles davon ab, ob ich meiner Haltung treu bleibe und auch die anderen sich auf diesen Weg einlassen. Doch immer wieder habe ich Entscheidungsfindungen als Chance für ein neues Miteinander erlebt.

Ulrike Zachhuber
Psychiaterin, Friedberg-Ottmaring
Zwischen Durchsetzen und Nachgeben liegt das weite Feld des „Sich-Verständigens“. Da steckt das Wort „Stand/Standpunkt“ drin, der für den Prozess der Entscheidungsfindung wichtig ist. Hier sind vor allem Fragen hilfreich. Ich sollte mir Zeit nehmen und mich fragen: Wo steheich in dieser speziellen Situation? Wie wichtig ist mir das Thema? Ist es verzichtbar oder von hoher Bedeutung für mich? Wie sieht es mit meinen Werten und Bedürfnissen aus? Und schließlich: Welche Position nehmeich ein und wie positioniert sich mein Gegenüber? Wie fühlt sich das an? Auch die unmittelbare körperliche Befindlichkeit ist ein gutes Kriterium, um zu einer Einschätzung zu kommen.
Das Wohl des oder der anderen im Blick zu haben ist gut, aber ebenso wichtig ist es auch, mich selbst wahrzunehmen und nicht zu übergehen.
Anhaltspunkte hängen auch eng mit der Rolle beziehungsweise der Funktion zusammen, die ich in der entsprechenden Situation innehabe. Eltern, die eine Erziehungsaufgabe haben, oder Führungspersonen im Arbeitskontext müssen diesen wichtigen Prozess lernen – etwa durch Lektüre oder reflektierte Erfahrungen. Ja, es ist ein Lernprozess, doch die Investition lohnt sich, denn stimmige Entscheidungen sind für alle Beteiligten wichtige und stärkende Erfahrungen.

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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Mai/Juni 2023.
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