6. Juni 2023

Der Blick der Frauen

Von nst5

Offener Brief an Frau Amira Hafner-Al Jabaji

Sehr geehrte Frau Hafner-Al Jabaji!

Auf die Frage nach der Rolle der Frau in den Religionen sagten Sie 2019 in einem Interview für das Webportal 100frauen.ch: „Die Macht zur Auslegung von religiösen Quellen lag stets bei den Männern. So haben Interpretationen, die die männliche Vormachtstellung zementieren, über weite Strecken die Geschichte und die Traditionen bestimmt. Heute ermächtigen sich Frauen in Judentum, Christentum und Islam vermehrt dazu, die Quellen selbst zu lesen und zu interpretieren und damit die männliche Definitionsmacht aufzubrechen.“
Eine dieser Frauen sind Sie. Seit vielen Jahren sprechen und schreiben Sie über die Rolle der Religionen in einer Gesellschaft, die nicht mehr selbstverständlich religiös ist. Und Sie engagieren sich im Dialog zwischen den drei abrahamitischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam.
Bereits 2008 gründeten Sie mit der christlichen Theologin Doris Strahm und der jüdischen Theologin Gabrielle Girau Pieck den Interreligiösen Think-Tank (ITT), der in diesem Herbst 15 Jahre alt wird. Der ITT, so heißt es auf der Website, ist ein institutionell unabhängiger Zusammenschluss von Vertreterinnen des interreligiösen Dialogs in der Schweiz, die gemeinsam ihre Dialogpraxis reflektieren, gesellschaftliche und religionspolitische Fragen diskutieren und ihre Erkenntnisse und ihr interreligiöses Know-how der Öffentlichkeit zugänglich machen.
Kurz zuvor war der „Rat der Religionen“ gegründet worden, ein reines Männergremium aus Vertretern religiöser Institutionen. „Wir wollten einen Ort schaffen, um der Perspektive von Frauen zu Sicht- und Hörbarkeit zu verhelfen.“ Der ITT mischt sich in die öffentlichen Debatten ein – etwa als es um das Minarett- oder das Verhüllungsverbot ging.
Wenn es darauf ankommt, scheuen Sie die Auseinandersetzung nicht. Denn Ihnen ist wichtig, „die Diskussionen um eine multireligiöse und multikulturelle Gesellschaft niemals den Scharfmachern auf allen Seiten“ zu überlassen. „Es braucht die Vision des vernunftgeprägten und praktikablen Mittelweges.“
Was mich beeindruckt, ist zu sehen, dass Sie zwar politische Anliegen verfolgen, Ihr Ausgangspunkt aber geistlicher Natur ist. Die zunehmende spirituelle Entwurzelung in unserer Gesellschaft beschäftigt Sie sehr, weil sie Auswirkungen auf das Leben jedes Menschen und auf den Zusammenhalt in der Gesellschaft habe. Welches Angebot, so fragen Sie, können die Religionsgemeinschaften machen? Wie können sie eine Sprache finden, die nicht abschreckt und Menschen ausschließt, sondern ansprechend und einladend ist? Wie kann religiöses Wissen und religiöse Tradition an Kinder weitergegeben werden? Wie soll religiöse Tradition sinnstiftend bleiben und nicht als menschen- und modernitätsfeindlich betrachtet werden?
Zu vielen dieser Fragen publizieren Sie und setzen dabei auf die Zusammenarbeit der Religionen, die voneinander lernen und sich gegenseitig befruchten könnten. Religiöses Lernen und Denken in spiritueller Tiefe sollte viel stärker mit alltäglichen und wissenschaftlichen Themen verbunden werden. Deshalb gelte es, neben dem Dialog der Religionen untereinander auch einen gemeinsam getragenen Dialog der Religionen mit der säkularen Welt und der Wissenschaft zu fördern.
Für Ihr Engagement finden Sie nicht nur Zustimmung. Auch deshalb wünsche ich Ihnen viel Kraft und Ausdauer.

Mit freundlichen Grüßen
Peter Forst, Redaktion Neue Stadt

Foto: (c) Laurent Burst

Amira Hafner-Al Jabaji,
geboren 1971 in Bern, ist schweizerisch-irakische Doppelbürgerin. Sie hat Islamwissenschaft, neuere vorderorientalische Philologie und Medienwissenschaften studiert. Zwischen 2015 und 2021 war sie eine der Moderatorinnen von „Sternstunde Religion“ im Schweizerischen Fernsehen SRF. Die Referentin und Publizistin ist Mitbegründerin und Präsidentin des Interreligiösen Think-Tanks. 2011 erhielt sie für ihr langjähriges Engagement im Dialog zwischen den Religionen den Anna-Göldi-Preis und 2016 den Fischhofpreis. Sie ist verheiratet, hat drei Söhne und wohnt in Grenchen im Kanton Solothurn.
www.interrelthinktank.ch


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Mai/Juni 2023.
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