2. August 2023

Im Spiel feiert man das Leben

Von nst5

Spielen macht Spaß. Spielend erkunden wir die Welt.

Im Spiel probieren wir uns aus und dürfen dabei auch mal andere Rollen einnehmen. Über diese und weitere Facetten des Spiels sprachen wir mit Jens Junge. Er ist sogenannter Ludologe, Spielforscher, und spielt mit Begeisterung. Dass jemand das nicht tut, kann er kaum glauben.

Spielforscher Jens Junge in einer Zeichnung von: (c) Lisa Gawenda

Herr Junge, Sie sagen, Spielen sei ein Urphänomen. Was meinen Sie damit?
Der Blick in die Natur zeigt, dass sie überall mit Vielfalt und Veränderung spielt. Überall können wir Spielphänomene entdecken – bis in die Mikrobiologie hinein. Auch Katzen und Hunde spielen. Es geht also um sehr viel mehr als nur die Regelspiele, die viele wohl zunächst im Sinn haben.

Das macht es nicht gerade leichter, “Spiel” zu definieren.
Das stimmt. Man kann von verschiedenen Perspektiven darauf schauen. Der Wortstamm kommt aus dem Mittelhochdeutschen ‚spil’ und meint Bewegung, Drehung, Tanz. Das ist eine sehr umfassende Definition; darunter fassen wir auch das Spiel der Wolken, der Worte bis hin zur Schraube, die nicht richtig festgezogen ist und Spiel hat, wie wir sagen. Diese Definition ist anregend, hilft aber oft nicht weiter. Deshalb gefällt mir: Spiel ist Kontrasterfahrung.

Zum Alltag …?
Zur Wirklichkeit. Mit dem Spiel schaffen wir eine Erfahrungswelt, die uns Erlebnisse und Emotionen ermöglicht, die über das hinausgehen, worin wir uns normalerweise bewegen.
Tiere spielen eben auch, aber nur dann, wenn sie satt und sicher sind. Wir brauchen das Spiel nicht zur Existenzsicherung, sondern um uns andere Erfahrungsräume zu erschließen. Spiel ist ein Verhalten, das uns ein besseres Verständnis von Zusammenhängen erschließt.

So wie Kinder durchs Spielen lernen?
Tatsächlich können Babys diese Welt nur spielend begreifen. Da sind wir beim Urphänomen. Sie spielen mit ihren Fingerchen und lernen sich und den eigenen Körper kennen. Wir alle haben eine intensive Spielbiografie hinter uns, bevor wir anfangen, mit Sprache umzugehen, zu brabbeln und erste Wörter zu formen. Wir lernen spielerisch Regeln und Bedeutung von Sprache. Dann beginnen die Fantasiespiele; wir geben Dingen eine Bedeutung. Wenn Kinder die komplexe Gesellschaft erfahren haben, bringt sie das zu Rollenspielen: sich verkleiden, Polizist, Ärztin spielen, … und dann kommt bald der Wunsch, die Welt auch zu verändern: Sie fangen an mit Konstruktionsspielen, haben Spaß am Verbinden und Trennen, am Bauen und Zerstören. Das macht jedes Kind, um sich diese Welt begreifbar zu machen und in ihr klarzukommen.

Gilt das auch für Erwachsene?
Im Prinzip ja; auch wir können die Welt nur spielerisch erfahren und begreifen. Deshalb sind Spiele elementarer Bestandteil unserer Kultur. Wenn wir das Leben als Spiel begreifen, merken wir, dass das gesellschaftliche Leben nicht nur aus festgeschriebenen Gesetzen besteht. Gerade als Erwachsene haben wir ständig mit Ordnungen und Regeln zu tun, die sich irgendwer mal ausgedacht oder die eine Mehrheit für gut befunden hat. Das schafft Sicherheit und Geborgenheit; es hilft, die Welt zu erklären oder Dinge wiederzuerkennen. So fühlen wir uns gut. Wir neigen dann aber auch dazu zu glauben, die Regeln seien unumstößlich.

Nehmen wir das Leben deshalb oft so wenig spielerisch?
Genau. Ich meine, dass viele Menschen, die sich mit großen Problemen herumschlagen, mehr spielen sollten.
Das Spiel und die Kreativität geben den nötigen Raum, Fragen zu stellen. Sie ermöglichen es, sich von scheinbaren Tatsachen zu distanzieren, Naturgesetze zu hinterfragen und diese vielleicht auch mal auf den Kopf zu stellen. Das öffnet den Blick auf Alternativen, auf andere Ideen und Gedanken. Wer keine Gedankenspiele mehr machen kann, hängt fest – auch in Verschwörungstheorien.
Das Leben ist permanente Veränderung. Das Spiel hilft, in Bewegung zu bleiben und sich auf Veränderung einzulassen.

Gibt es Menschen, die gar keine spielerischen Elemente in sich haben?
Das bezweifele ich. Es gibt Menschen, die dauernd das gleiche Spiel spielen. Dann ist es vor allem Anlass, um Geselligkeit zu organisieren. Man spielt – Skat, Schach oder andere Brettspiele -, um sich immer wieder mit anderen zu messen. Andere gehen gerne ins Theater, wo auf der Bühne auch gespielt wird. Wieder andere schauen sich Spielfilme an und lassen das Leben anderer Menschen an sich vorbeiziehen. Menschen suchen am Computer und Handy Unterhaltung, Ablenkung oder eine Herausforderung und wachsen und gedeihen an den Spielerfahrungen, die sie dort machen. Jemand geht tanzen – Bewegungsspiele. In jedem Roman tun wir so, als ob – Gedankenspiele.

Also spielen im Grunde alle irgendwie?
Das Leben ist Spiel. Man feiert das Leben im Spiel. Man genießt das Leben im Spiel. Man wird zuversichtlicher dadurch, dass man spielt, weil man sich Alternativen ausdenkt, variabler im Kopf ist oder eben einfach Spaß und Freude an der Bewegung und der Herausforderung hat. Spiel ist ganz entscheidend  für die Lebensgestaltung. Wenn jemand behauptet, dass er nicht spielt, fordert mich das geradezu heraus, da nachzuforschen.

Macht es einen Unterschied, ob jemand am Computer oder am Brett spielt?
Klar. Da gibt es große Unterschiede. Bei Brettspielen genieße ich das Persönliche, das Mitmenschliche. Da möchte ich den Angstschweiß des Gegenübers auf der Stirn sehen, wenn ich ihm das Leben schwermache. Das ist ein viel intensiveres soziales Erlebnis. Natürlich gibt es auch bei Multiplayer-Games Mannschaften und Kommunikationsmöglichkeiten, aber die digitalen Welten haben andere Stärken: Geräusche, Filmelemente, Romanthemen – alles Erzählerische ist dort viel fesselnder.

Wie steht es um die Suchtgefahr?
Was schön ist, was gefällt, zieht uns in den Bann. Und das ist zunächst positiv. Sucht hat dann immer auch mit Suche, mit Sehnsucht zu tun. Oft sind Menschen, die einer Sucht verfallen, auf der Suche nach etwas. Deshalb ist es notwendig, auf die Motive zu schauen, warum jemand diese oder jene Spielform gefällt.

Spielen bedeutet Spaß, Freude, das Leben genießen. Steht das nicht im Widerspruch dazu, dass Spiele häufig als Methode eingesetzt werden?
Das muss kein Widerspruch sein. Es stimmt zwar: Im sozialpädagogischen Bereich, in der Freizeitpädagogik, in der Lehrerfortbildung und in vielen Seminaren ist Spiel Thema. Angefangen vom Kennenlernspiel bis zu Simulationsspielen, mit denen man komplexe Zusammenhänge des Menschseins, der Kultur, des Unternehmens aufgreift und spielerisch versucht, die Realität nachzuempfinden, Verhalten zu verstehen und zu trainieren.
Komplexe Gesellschaften brauchen komplexe Spiele. Und da brauchen wir auch die Verzweckung des Spiels, um das Umfeld, in dem wir leben und arbeiten und das uns vielleicht bedrängt, nachzuvollziehen, zu erklären und uns dann variabler, anders und besser verhalten zu können.

Es gibt also viele gute Gründe zu spielen?
Sehr viele! Spiel macht Spaß. Es hilft Lernen und kann Entspannung bringen. Mit Gesellschaftsspielen kann man nette Abende verbringen, manchmal sogar unterschwellige Konflikte lösen. Kindern tut es gut, wenn sie beim Memory gewinnen und damit plötzlich die Machtordnung auf den Kopf gestellt wird. Das schafft Selbstwert. Spielen hilft, dass wir uns als Persönlichkeit vernünftig entwickeln, weil wir Charaktereigenschaften trainieren, schulen und hervorlocken. Etwa gewinnen und verlieren. Das ganze Leben hat mit Sieg und Niederlage zu tun. Und das können wir im Spiel lernen. Hinfallen und wieder aufstehen, weitermachen. Andererseits: Beim Spielen können wir auch mal über die Stränge schlagen, uns so richtig schlecht verhalten.
Wir gehen an unsere Grenzen und lernen uns und die anderen dabei kennen; im Spiel organisieren wir das Miteinander. Spielen ermöglicht gemeinsame, verbindende Erfahrungen. Das schafft Vertrauen, Verbundenheit, Emotionalität, die wir sonst nie erleben können.
Spiel ist eben Kontrasterfahrung zu dem, was ansonsten stattfindet, und kann uns deshalb sehr guttun …

… und mit mehr Leichtigkeit an Dinge heranzugehen?
Ja, genau. Spiel schafft ja Optimismus. Man sucht nach Lösungsmöglichkeiten und nimmt den Ernst aus dem Leben. Man erfährt die Kraft des Feierns und die Freude an Veränderung. Das ist wichtiger als Gesetze und Regeln pflichtbewusst einzuhalten. Denn obwohl es in jedem Spiel ein Spielumfeld gibt, das mir Sicherheit gibt, kann man dann die Regeln auch ändern und sehen, welche neue Dynamik dadurch entsteht. Solche Erfahrungen können uns ermutigen, auch das Leben ein bisschen spielerischer zu nehmen und damit neue Freiheiten zu erleben.

Herzlichen Dank für das anregende Gespräch!
Gabi Ballweg

Jens Junge
ist Direktor eines Instituts in Berlin, das sich wissenschaftlich mit dem Spielen befasst. Der Ludologe (Spielewissenschaftler) befasst sich dort mit dem Grundphänomen des Menschen, dem Spielen, in seinen unterschiedlichsten Formen.
Er ist seit 1984 in der Spielebranche tätig. Begonnen hat er mit der Illustration von Brettspielen und der Veröffentlichung eigener Comics. An eine Ausbildung zum Verlagskaufmann schloss er ein Studium der Volkswirtschaftslehre und der Geschichte an; er hat auch einen Abschluss als Diplom-Betriebswirt. Heute ist er als Professor, Autor und Referent leidenschaftlich für das Kulturgut Spiel unterwegs.

www.ludologie.de


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Juli/August 2023.
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