Den Alltagstrott verlassen
Gabriele Meisner
ist Diplom-Sozialpädagogin und seit 1988 nebenberufliche Dozentin für Spielpädagogik an verschiedenen Hochschulen in Studiengängen der Sozialen Arbeit und Kindheitspädagogik. Die Autorin von drei Spielebüchern hat etwa viele Fachartikel geschrieben und zahlreiche Fortbildungen gehalten. Mit ihren Spielen bei Veranstaltungen in unterschiedlichsten Kontexten hat sie ein breites Spielpublikum erreicht. Begonnen hat für sie das alles mit 14 Jahren in der Jugendarbeit ihrer Gemeinde in Berlin und beim BDKJ.
„Die ganze Welt ist eine Bühne, auf der die Menschen nichts als Spieler sind.“ Diese interessante Aussage von Shakespeare lässt den Menschen als Spieler auf seiner Lebensbühne auftreten. Johan Huizinga, holländischer Kulturwissenschaftler, beschrieb das Spiel 1956 hingegen als „eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung“, die „begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‚Andersseins’ als das ‚gewöhnliche Leben’“.
Das Verlassen des Alltagstrotts reizt und schenkt Entspannung, Abwechslung, neues Erleben. Spielen bietet sich als Hilfsmittel an, aus der Vernunftebene auszusteigen und in die schöpferisch-kreative Welt einzusteigen.
Aber – so könnte man fragen – ist es nicht Verschwendung, die kostbare Zeit „zu verspielen“ statt sie „sinnvoll“ mit Arbeit zu nutzen? Schließlich ist das Leben ernst und wir müssen für unseren Lebensunterhalt sorgen; wer hat im 21. Jahrhundert noch Zeit, sich der Nostalgie des Spielens hinzugeben? Trotzdem fasziniert der Spielgeist auch Erwachsene und wenn es nur für einen kurzen Moment ist – etwa durch einen Ball, der uns zufällt und den wir zurückwerfen. Nicht zu vergessen ist da auch ein Fußball, der Millionen Menschen weltweit vor die Bildschirme holt und die höchsten Einschaltquoten bringt.
Seit 50 Jahren „spiele“ ich mich nicht nur beruflich durchs Leben. Fasziniert haben mich zunächst die Gruppenspiele in der Jugendarbeit und die Dynamik, die sie ausgelöst haben. Wenn man den Spaß des Spielens mit einer Person oder in Gruppen erlebt, erahnt man etwas von der Unkompliziertheit, welche die menschliche Existenz haben kann. Die Spielekultur, wie ich sie in den 1970er-Jahren erlebt habe, hat sich inzwischen weiterentwickelt – aus Wettkampfspielen wurden New Games-Festivals, die den kooperativen Charakter unterstrichen und Tausende in Bewegung gesetzt haben. Spiele können dabei ein Hilfsmittel sein, über das man anders und direkter ins Gespräch kommt, ein Weg hin zu Kooperation und Begegnung; sie bringen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, Schichten, Generationen zusammen. Aber sie sind kein Selbstläufer; gerade in großen Gruppen oder wenn Menschen nicht gewohnt sind zu spielen, braucht es eine gute Anleitung und viel Energie, um etwas in Bewegung zu setzen. Dann allerdings kann man damit „übliche“ Settings sprengen – auch weil die Spiele helfen, aus der eigenen Komfortzone herauszukommen.
Wir scheinen das Spiel zu brauchen, um die Leichtigkeit des Seins zu erfahren oder – wie Friedrich Schiller meinte – „der Mensch ist nur da ganz er selbst, wo er spielt“. Der österreichische Theologe Michael Horatczuk formuliert es provokant, aber anregend: „Der Mensch, der nicht mehr spielen kann, ist kein Kind mehr, und solchen Leuten muss man immer misstrauen. Immer nur eingespannt sein: Da wird der Mensch leicht ameisenhaft, und die Tätigkeit dieser Tierchen besteht in Arbeiten, Beißen und Gift spritzen.“
Spielen kann Heiterkeit und Freude auslösen und selbst in sehr ernsten Lebenslagen kann es diese für einige Momente vergessen lassen. Oder ist es vielleicht auch genau umgekehrt? So wie der sagenumwobene Anacharsis schon gut 500 v. Chr. aufforderte: „Spiele, damit du ernst sein kannst.“
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Juli/August 2023.
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