4. Oktober 2023

WORT DES LEBENS . PLUS

Von nst5

Christentum und Herrschaft

Das Wort Gottes lädt seit jeher zum Nachdenken über das Verhältnis der christlichen Gemeinschaft zu der sie umgebenden politischen Herrschaft ein. Die ersten christlichen Gemeinden verstanden sich als Kontrastgesellschaft, die sich sichtbar von der gängigen politischen Praxis abheben wollte. Gewiss hatte die Gemeinde noch die kritischen Worte Jesu gegenüber dem Umgang mit Macht im Ohr („Bei euch aber soll es nicht so sein!“, Markus 10,43). Auch unser „Wort des Lebens“ ist in diesem Zusammenhang zu lesen: Kein Herrscher hat Anspruch auf bedingungslosen Gehorsam. Ihnen kann zurückgegeben werden (so das griechische Original), was ohnehin ihren Namen trägt, mehr jedoch nicht.
Wo sie konnten, haben die Christinnen und Christen ihre Gemeinschaft nach Maßstäben gestaltet, die sich am Wirken Jesu orientierten. Das zeigte sich in sehr eigenen Modellen der gemeinsamen Verantwortung, im Umgang mit Gütern und vor allem in der gleichberechtigten Präsenz ärmerer Schichten in ihrer Mitte. Mit dem Zerfall des Römischen Reiches wuchs die Rolle der Kirche als politische Ordnungsmacht. Sie ließ sich in den Wettbewerb um Herrschaftsanteile verwickeln, und so trat das originär Christliche eher in den Hintergrund.
Unser Wertesystem hat sich in den Jahrhunderten christlicher Prägung teils mit der Kirche, teils gegen sie entwickelt. Die Kirche selbst wurde von der säkularen Gesellschaft und Herrschaftslogik geprägt, teils mit verheerenden Folgen (von den Geschlechterrollen bis zur Anwendung von Gewalt, um eigene Interessen durchzusetzen), teils mit reinigender Wirkung (wie die Wiederentdeckung der individuellen Freiheit).
Und heute? Nimmt man die Zahl der praktizierenden Christinnen und Christen als Grundlage, ist ihr Anteil an der Bevölkerung etwa so hoch wie in der Zeit vor dem Zerfall des römischen Imperiums. Die politisch garantierten kirchlichen Privilegien werden mit großer Gewissheit immer weniger werden. Diese äußerliche Angleichung an die Anfangszeit des Christentums bedeutet aber nicht automatisch, dass wir uns auch dem Kern der Botschaft Jesu nähern. Das „Wort des Lebens“ verweist die christliche Gemeinschaft und jeden Glaubenden auf den Einsatz für das, was Gott zusteht – unabhängig von geltenden Rahmenbedingungen. Aus der Geschichte wissen wir, dass es diesen Einsatz nicht nur in der Welt braucht, sondern auch in den Kirchen selbst. Es gilt, dort, wo wir können, Umgebung und Miteinander so zu gestalten, wie wir es an Jesus selbst und den ersten christlichen Gemeinschaften ablesen. Denn die Frage, was wir Gott zurückgeben können, bleibt durch alle Zeiten ebenso herausfordernd wie eindeutig: die Liebe zu jedem Menschen und der Einsatz dafür, dass er/sie sich entfalten und seinen/ihren Beitrag zur Gemeinschaft geben kann.
Michael Berentzen

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