6. Dezember 2023

Freunde dem Krieg zum Trotz

Von nst5

Offener Brief an Yazid Shammout und Michael Fürst

Sehr geehrte Herren Fürst und Shammout!

Ihre Freundschaft ist erstaunlich! Denn der Terrorangriff der Hamas auf Israel, der am 7. Oktober begann, steht im extremen Kontrast dazu. Der jahrzehntelange Konflikt zwischen Juden und Arabern, Israelis und Palästinensern zeigt sich vor den Augen der Welt erneut in seiner ganzen Brutalität! Vor dem Hintergrund des mörderischen Krieges und der großen Zahl unschuldiger Opfer auf beiden Seiten fällt Ihre Freundschaft besonders auf: wie ein Stern in tiefer Nacht – ein Hoffnungsschimmer!
Zwei Tage nach den ersten Attacken riefen Sie mit der Palästinensischen Gemeinde Hannover und dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Niedersachsen zum Frieden auf. Gemeinsam verurteilten Sie „die barbarischen Ereignisse“ und appellierten an Ihre Mitglieder und Sympathisanten, trotz aller Meinungsunterschiede und Emotionen respekt- und friedvoll miteinander umzugehen. Es dürfe in Niedersachsen nicht zu Hass und Gewalt kommen, „Freudentänze und Freudenfeuer verbieten sich“. Von der deutschen und europäischen Politik forderten Sie, deeskalierend zu handeln „und eine dauerhaft friedliche Lösung durchzusetzen“.
Ihr Eintreten für den Frieden Seite an Seite ist nicht aus dem Stehgreif entstanden. Eine langjährige Freundschaft verbindet Sie, die sich aus Ihrem Einsatz für Verständigung zwischen Palästinensern und Juden entwickelt hat. Schon 2009 zeigten Ihre beiden Gemeinden bei einer Kundgebung zum 1. Mai gemeinsam Flagge gegen Fremdenfeindlichkeit, Rechtsradikalismus, Faschismus und Antisemitismus. Sie brachten Palästinenser und Holocaust-Überlebende zusammen und ließen sie einander von ihren Erlebnissen erzählen unter der Maßgabe, nicht zu diskutieren, sondern nur zuzuhören. Als Sie beide zusammen das erste Mal mit einer niedersächsischen Delegation nach Israel und Palästina reisten, sorgte das für diplomatische Irritationen. Sie, Herr Fürst, durften nicht bei Gesprächen mit Palästinenserpräsident Abbas dabei sein, Sie, Herr Shammout, nicht bei der Begegnung mit Ministerpräsident Netanjahu. 2022 renovierten Mitglieder Ihrer Gemeinden zusammen ein ehemaliges Pflegeheim in Isernhagen und richteten es als Unterkunft für dreißig ukrainische Flüchtlinge ein.
Verständlich, dass Ihr Wunsch nach Austausch und Zusammenarbeit zwischen Juden und Palästinensern in Ihren Gemeinden anfangs skeptisch beäugt wurde. Ihnen ist auch klar, dass Sie in bestimmten Punkten unterschiedlicher Ansicht bleiben werden. Daher haben Sie von vornherein bewusst nach Gemeinsamkeiten gesucht. Wir können uns gut vorstellen, dass die politische Entwicklung, die Siedlungspolitik, Terroranschläge und Raketenbeschuss Ihre Freundschaft und Ihren Dialog immer wieder auf die Zerreißprobe stellen! So wissen wir es zu schätzen, dass Sie trotzdem dranbleiben! Sie sagen: Wenn Sie es als Juden und Palästinenser im sicheren Deutschland nicht schaffen, einander zuzuhören, sich ausreden zu lassen, sich als Menschen zu betrachten und mit Anstand und Respekt zu behandeln, wo dann?
Derzeit ist kaum vorstellbar, wie es auf der großen Ebene zum ersehnten Frieden kommen kann. Umso wichtiger ist es, ihn vor Ort vorzuleben wie Sie es tun. Darin können wir Sie nur bestärken und hoffen, dass Ihr Engagement weit über Niedersachsen hinaus Schule macht!

Mit freundlichen Grüßen
Clemens Behr, Redaktion NEUE STADT

Yazid Shammout und Michael Fürst
Shammout, geboren 1960 in Beirut, ist seit 2004 Vorsitzender der Palästinensischen Gemeinde Hannover. Er ist Unternehmer; seine Familie stammt aus Palästina.
Fürst, geboren 1947 in Hannover, ist Vorsitzender einer Jüdischen Gemeinde in Hannover und seit 1980 auch des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen. Er ist Sohn eines Holocaust-Überlebenden und Rechtsanwalt.
2017 wurden beide zusammen vom deutschen Bundesinnenministerium als „Botschafter für Demokratie und Toleranz“ ausgezeichnet.

NDR-Beitrag: Gaza-Krieg: Palästinensisch-jüdische Zusammenarbeit in Hannover
Süddeutsche Zeitung: Zusammenhalt der jüdischen und palästinensischen Gemeinde in Hannover


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, November/Dezember 2023.
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