„Es wird immer schöner“
Nach Jahrzehnten voller Kontakte sind Gottlob und Susanne Heß heute mehr aufeinander verwiesen.
Ein Porträt zweier Menschen, die miteinander und in Gott verbunden sind.

„Erst jetzt lerne ich dich richtig kennen.“ Es ist nur wenige Wochen her, dass Gottlob Heß diesen Satz zu seiner Frau Susanne gesagt hat. Durchaus ungewöhnlich, dass ein Mann, der auf die 90 zugeht, nach fast 60 Ehejahren eine solche Feststellung trifft. Es ist Susanne, die daran erinnert; man spürt, wie dankbar sie ist, dass ihre Beziehung sich auch nach so vielen Jahren noch entwickelt. Gottlob nickt zustimmend, fast ein wenig gerührt, als Susanne sagt: „Es wird immer schöner!“
Dabei war es wahrlich keine Liebe auf den ersten Blick, als die beiden sich 1960 auf der Burg Egloffstein begegneten. Susanne war dort zu Hause, und Gottlob kam, um Ferien zu machen. Der junge Vikar hatte schnell einen Blick auf Susanne geworfen. Als sie 18 wurde, unternahm er die ersten Annäherungsversuche, wurde aber abgewiesen. „Ich war noch nicht bereit“, meint Susanne. Zum Glück sei Gottlob geduldig und liebevoll gewesen. „So konnte ich meinen inneren Weg gehen und Gottes Führung annehmen.“ Aus „Lass mich in Ruhe“ wurde mit der Zeit ein „Er lässt mich nicht in Ruhe“, und so übernahm schließlich sie die Initiative. Im September 1964 haben sich die beiden verlobt und zwei Jahre später geheiratet. Im Laufe der Jahre wurden ihnen vier Kinder geboren: Michael, Ulrich, Matthias und Eva-Maria.
Gottlob Heß selbst wurde 1936 als erstes von fünf Kindern geboren und wuchs in einem Pfarrhaus im oberfränkischen Ermreuth auf. Seine ersten Begegnungen mit der Bibel haben sich ihm tief eingeprägt. Wie etwa eine Nacht, in der die nahegelegene Stadt Nürnberg bombardiert wurde. Der Großvater kam zu den fünf Kindern und trug ihnen zum Trost Verse aus Psalm 46 vor: „Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken, wenngleich das Meer wütete und wallte und von seinem Ungestüm die Berge einfielen.“
Mit 16 verbrachte Gottlob einige Zeit auf einem Bauernhof im französischsprechenden Teil der Schweiz. Er hatte sich unglücklich an der Hand verletzt, saß mit großem Heimweh im Garten, als er plötzlich den Eindruck hatte, dass Jesus ihn von hinten an den Schultern ergreift: „Mit mir kannst du rechnen. Ich verspreche dir meine Freundschaft.“ Ein Tränchen läuft ihm die Wange hinunter, als er von dieser einschneidenden Begegnung erzählt. „Jesus möchte uns Freund sein!“ Diese Gewissheit strahlt Gottlob bis heute aus, und sein Leben lang wollte er sie möglichst vielen Menschen vermitteln.
Gottlobs Vater, Klaus Heß, war bereits seit den 1930er-Jahren in engem Kontakt zur „Bruderschaft vom gemeinsamen Leben“, eine Anfang des 20. Jahrhunderts in der Schweiz entstandene Laienkommunität mit der Berufung, für die Einheit des Leibes Christi zu leben. Um diese Bindung zu vertiefen, zog Familie Heß 1956 für vier Jahre in das Nidelbad, den Ursprungsort der Bruderschaft (heute: „Vereinigung vom gemeinsamen Leben“) in der Nähe von Zürich.
1959 nach dem Abitur vermittelte ihm die Schweizer Flüchtlingshelferin Gertrud Kurz einen einjährigen Aufenthalt in Israel. Nur wenige Jahre nach der Shoah war das alles andere als selbstverständlich für einen Deutschen. Mit einer Gruppe von zwölf jungen Menschen lebte und arbeitete er dort in zwei jüdischen Gemeinschaftssiedlungen, sogenannten Kibbuzim, in der Nähe von Haifa und Tel Aviv. Die Beziehung zum Judentum und zu Israel sollte Gottlob nie wieder loslassen.
Nach seiner Rückkehr studierte er in Heidelberg Theologie. Von dort aus hielt er an mehr als 50 Orten Lichtbildervorträge über seine Zeit in Israel. Auf viele dieser Reisen nahm er seinen Zimmergenossen Halvor Ronning mit, einen Studenten aus den USA. Nach und nach begeisterte sich Halvor selbst für Israel; auf einer Reise dorthin lernte er seine Frau Mirja kennen, lebt seither in Israel und gründete das „Jerusalem Center for Bible Translators“, das die Übersetzung der Bibel auch in Sprachen fördert, die nur wenige Menschen sprechen.
Hier zeigte sich vielleicht zum ersten Mal eine Gabe, die Gottlob auszeichnet, und die später wiederholt Früchte getragen hat: Freundschaften zu pflegen und – wenn sich die Gelegenheit ergibt – etwas einzufädeln, also dabei zu helfen, dass Netzwerke entstehen können.

Susanne wurde 1944 geboren. Zu einem fränkischen Adelsgeschlecht mit langer Geschichte zu gehören, sei kein Privileg, sondern mit Verantwortung verbunden gewesen, sagt sie. Das Erbe der Väter – Land, Wald und Burg – zu erhalten, verlangte großen Einsatz auch von den Kindern – vor allem im Garten. Von daher rührt Susannes tiefe Verbindung mit der Erde. Sie weiß sich allem Natürlichen sehr nahe.
Bis zum Alter von zwölf Jahren lebte sie auf der Burg. Danach besuchte sie ein musisches Gymnasium mit Internat erst in Erlangen, dann in Bayreuth. Ganz auf sich allein gestellt zu sein, machte ihre Schulzeit schwierig. Susanne litt unter großem Heimweh und verließ die Schule zwei Jahre vor dem Abitur.
Nachdem Susannes Vater erkrankte, stellte sich die Frage, wie es auf der Burg weitergehen sollte. Über den Ortspfarrer kam die Familie in Kontakt mit Klaus Heß, der auf der Suche nach einem Ort war, an dem er regelmäßig kleinere Gruppen der Bruderschaft versammeln konnte. Susannes Eltern öffneten die Burg für diese Gruppen. 30 Jahre lang – von 1960 bis 1990 – stellten sie ihr Haus wöchentlich wechselnden Gruppen zur Verfügung.
Nach der schwierigen Schulzeit war die Begegnung mit dem Bund Christlicher Pfadfinderinnen für Susanne wie eine Rettung. Hier erfüllte sich ihre Sehnsucht, dass Natur und Glaube zusammenfinden. Noch drei Wochen vor der Hochzeit nahm sie am Bundeslager bei der Wieskirche teil.
Am 8. Dezember 1962 wird Gottlob ordiniert. Seine erste Stelle war in Füssen, wo er für den ländlichen Teil der Gemeinde zuständig war. Auf einem Einsiedlerhof in Leibenberg, den Diakon Delker und seine Frau zu einem Erholungsheim umgebaut hatten, fand Gottlob damals so etwas wie Familienanschluss.
1965 bewarb er sich auf eine Pfarrstelle in Augsburg-Hochzoll, auch um in der Nähe von einigen Familien der Bruderschaft zu sein, die schon damals in Ottmaring lebten, wo wenige Jahre später gemeinsam mit der Fokolar-Bewegung das Ökumenische Lebenszentrum entstehen sollte.
Doch er bekam die Stelle nicht, wohl auch, weil er als „zu ökumenisch“ galt. Stattdessen trat er eine Stelle im fränkischen Lauf an. Zunächst lebte er allein in einer Wohnung. Nach der Hochzeit mit Susanne bewohnten sie dann 24 Jahre lang das alte Pfarrhaus.
Als Pfarrfrau in Lauf – Gottlob war viel unterwegs – hat sich Susanne im Kontakt mit den vielen Besuchern, darunter auch Obdachlose, langsam geöffnet. Ganz wichtig war für sie das Pfarrerpaar Ingrid und Walter Trobisch, das in den 1970er-Jahren mit Kursen für Eheleute begann. „Sie haben die Frauen in den Blick genommen“, betont Susanne, „nicht nur als treue Begleiterinnen ihrer Männer. Mit ihnen habe ich gelernt, mich zu äußern.“ Die Menschenscheu war überwunden.

1989 rief die „Vereinigung vom gemeinsamen Leben“ das Ehepaar Heß nach Ottmaring, um dort das Ökumenische Lebenszentrum mitzutragen. Der Schritt aus der Gemeinde heraus fiel ihnen nicht leicht. Beim Abschied wurde ihnen neu bewusst, was Gottlobs Mutter, Amalie Heß, immer wieder mit einem Augenzwinkern gesagt hatte: „Die Gemeinde ist ein Königreich!“, also ein Ort mit viel Gestaltungsfreiraum. Doch Susanne und Gottlob wussten sich auch in Ottmaring mit ihren Begabungen einzubringen.
Dort in der Nähe von Augsburg mit seiner Vielzahl an christlichen Gemeinschaften entdeckte Gottlob noch einmal klarer: „Die Großkirchen sind nicht alles.“ Gezielt knüpfte er persönliche Kontakte zu Pfarrern, etwa der Baptistengemeinde, der Freien evangelischen Gemeinde Augsburg oder der Altkatholiken. Er lud sie mit ihren Frauen zu sich ein – zunächst einzeln, dann auch miteinander. „Ich wollte von ihnen wissen: Was bewegt dich?“ Einige Zeit danach kamen auch Johannes Hartl, der später das Gebetshaus in Augsburg gründete, und andere Katholiken wie der Pallottinerpater Wolfgang Held hinzu.
Die Eingeladenen waren überrascht und erfreut. Hin und wieder ging mit der Befreundung auch eine Befremdung einher. „Das geht so nicht“, meinte etwa ein Freikirchler, als er Pater Held hörte, der schilderte, wie wichtig Maria auf seinem Weg zu Jesus war. „Solche Schocks habe ich gewollt“, meint Gottlob mit einem Schmunzeln. „Mir war wichtig, dass Neues in das Leben derer kam, die meinten, sie hätten schon alles.“ Später entstand unter anderem aus diesen Begegnungen das Kairos-Frühgebet in Augsburg, zu dem monatlich etwa 60 Leiter christlicher Kirchen und Gemeinschaften zum Gebet für die Stadt zusammenkommen.
Die vielleicht nachhaltigste „Einfädel-Aktion“ von Gottlob erfolgte rund um die Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung der Rechtfertigungslehre in Augsburg. Als die Feierlichkeiten näher rückten, schrieb er einen Brief an Chiara Lubich, die Gründerin der Fokolar-Bewegung: Ob dieser Anlass nicht Gelegenheit für ein Zusammentreffen von Verantwortlichen aus Bewegungen und Gemeinschaften verschiedener Kirchen sein könnte. Chiara sagte zu, und so kam es am Nachmittag des 31. Oktober 1999 – auch dank der tatkräftigen Unterstützung von Helmut Nicklas vom CVJM München – zu einer Begegnung von etwa 50 Personen aus vor allem evangelischen Gemeinschaften mit Chiara Lubich und Andrea Riccardi, dem Gründer der Gemeinschaft Sant’Egidio. Schnell war klar, dass diese Begegnung nur ein Auftakt sein würde. Die Grundlage für das „Miteinander für Europa“, einem Netzwerk, das heute über 300 Gemeinschaften umfasst, war gelegt.
Susanne hat in Ottmaring das Frauenfrühstück ins Leben gerufen – eine Initiative, für die ihr bis heute viele Frauen dankbar sind. „Mich hat interessiert: Was erlebst du? Was freut dich? Was fällt dir schwer? Was gibt dir Kraft?“ 30 Jahre lang kamen die Frauen einmal im Monat zusammen und haben im Austausch Geistliches und Natürliches verbunden.

Der Beginn der 2000er-Jahre war für Gottlob und Susanne von einer Phase des schmerzhaften Abschiednehmens von ihrer Verantwortung im Ökumenischen Lebenszentrum geprägt; ein Ringen darum, was tun, wenn das, was man von innen spürt, nicht ganz mit dem im Einklang ist, was von außen kommt, auch von den Verantwortlichen der eigenen Gemeinschaft.
Seit einigen Jahren sind die beiden stärker aufeinander verwiesen. Gottlob erkennt vielleicht mehr als früher, was er am Zusammensein mit Susanne hat. Im Frühsommer dieses Jahres hat er das Autofahren aufgegeben – ein tiefer Einschnitt für jemanden, den es immer nach außen gedrängt hat. „Wir erkennen, dass wir bedürftig sind“, sagt Susanne. So manche aus der Nachbarschaft reagierten spontan: „Wir fahren euch gerne.“ So haben sich Kontakte erneuert. Sie erleben, dass sie in dieser Situation auch etwas schenken können.
Auf die Frage, wie es ihm heute geht, antwortet Gottlob ohne zu zögern: „Ich bin froh und offen für das Neue in der Zeit, die mir noch geschenkt ist.“ Jetzt nickt Susanne. Zwei Menschen, ein Paar, die miteinander und in Gott verbunden sind: „Es wird immer schöner.“
Peter Forst
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, September/Oktober 2024.
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