3. Dezember 2024

Der Stimme folgen

Von nst5

Auf dem künstlerischen und pädagogischen Weg von Andrea zu Löwenstein

gibt es zahlreiche Fingerzeige, denen sie mit Aufmerksamkeit und Liebe folgen möchte.

Der Sopran setzt ein: „Veni veni venias“: Großes Kino, wenn den Zuhörern bei den Pauken der Herzschlag stockt oder das hell klingende Glockenspiel ein Schmunzeln ins Gesicht zaubert. Es geht um Liebe und Leidenschaft: Carmina Burana ist das pralle Leben, ein pompöses Werk, mal verspielt, mal gewaltig, mal pianissimo und sogleich wieder fortissimo. 

Alle Fotos: privat

Musik kann viel in uns bewirken: Sie kann starke Emotionen auslösen, aber auch Balsam für die Seele sein. Für die Künstlerin Andrea Reuter, Sopranistin in der gerade angesprochenen Aufführung der Carmina Burana, ist die Musik – weit über die Kunst hinaus – der Schlüssel zu einem gelingenden Personsein. Musik kann den ganzen Menschen beflügeln.
Am Anfang stand die Großmutter, die ihrer Enkelin eine Geige schenkte. Die Geige war für die kleine Andrea sicherlich nicht das leichteste Instrument, denn es braucht viel Übung, um es zu beherrschen. Andrea nahm die Herausforderung an und zeigte die notwendige Ausdauer und Begeisterung für das Instrument.
Dann kam die Stimme – schon in ihrer Jugend war die gebürtige Hamburgerin von den Möglichkeiten der menschlichen Stimme fasziniert. Sie trat in den Kirchenchor ein, wo sie von einem Hochschullehrer „entdeckt“ wurde.
Mit 17 Jahren nahm sie Gesangsunterricht. Wie sie zu ihrer Gesanglehrerin kam, war Zufall ­– oder doch eine Fügung? Die Sekretärin ihres Vaters war Gesangschülerin von Elena Bartsch, die selbst bei dem angesehenen Musikpädagogen Hermann Weißenborn in Berlin gelernt hatte. Elena Bartsch wusste die Stimme der jungen Hamburgerin zu formen und zu fördern.
Der Stimme folgen – Andrea machte aus der Musik ihren Beruf und studierte an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Schulmusik für Gymnasien, Sologesang, Opernklasse und Geige waren ihre Fächer. Neben der akademischen Karriere nahm Andrea als Sopranistin erfolgreich an Gesangswettbewerben teil und belegte Meisterkurse bei Elisabeth Schwarzkopf und Edith Wiens.
Schon während der Schulzeit bemerkte sie ihren späteren Mann Michael zu Löwenstein und heiratete ihn am Ende ihrer Studienzeit. Das junge Paar ging nach Afrika. Ihr Mann arbeitete als Jurist in Niger in der Entwicklungshilfe. „Mir war bewusst, dass unser afrikanisches Abenteuer eine Zäsur für meine Gesangskarriere bedeutete“, erinnert sich Andrea.
Das Ehepaar lebte anderthalb Jahre in Niamey, Hauptstadt von Niger. Mit über zwei Millionen Einwohnern ist Niamey auch politisches, kulturelles und wirtschaftliches Zentrum des westafrikanischen Landes.
Andrea hat den Aufenthalt genutzt, um viele Kontakte zu knüpfen, besonders in der dortigen Pfarrgemeinde. „Dort engagierte ich mich mit meinem Mann in der Katechese für Taufbewerber. Die unkomplizierte und fröhliche Haltung der Menschen wirkte ansteckend und ist mir sehr gegenwärtig geblieben“.

Mit Yehudi Menuhin

Mit einer Franziskanerin aus Burkina Faso, die im Niger soziale Projekte leitete, blieb Andrea auch nach ihrer Rückkehr nach Deutschland verbunden und spendete einmal in jedem Jahr eine Konzertgage, um die Ordensfrau zu unterstützen. Diesem Engagement blieb Andrea bis zur Pensionierung der Franziskanerin treu.
Nach dem Einsatz in Niger kehrte das Paar mit der ersten Tochter nach Deutschland zurück und ließ sich in Frankfurt am Main nieder. Hier folgte Andrea wieder der Stimme der Musik. Sie tritt unter ihrem Mädchennamen Reuter bis heute national und international mit Solokonzerten und Musikprojekten auf.
Ihr ganzheitliches Verständnis von Musik bekam durch das 1977 von Yehudi Menuhin, dem weltberühmten Geiger, in Großbritannien gegründete Projekt „live music now“ wichtige Impulse. Seit 1992 ist es auch im deutschsprachigen Raum tätig. Das Projekt fördert junge Talente und bringt Musik zu denen, die sie am meisten benötigen, etwa Menschen, die in Krankenhäusern, Altenheimen, Waisenhäusern, Strafanstalten, Hospizen oder anderen sozialen Einrichtungen leben. So kann sich zeigen, wovon Menuhin überzeugt war: „Musik heilt, Musik tröstet, Musik bringt Freude.“ Die Gründung der Frankfurter Sektion des Vereins unterstützte Andrea, indem sie die künstlerische Leitung übernahm.

Music4You-Konzert

Junge Talente zu fördern erschloss sich für Andrea auch zu einer lohnenden beruflichen Herausforderung. Als Musiklehrerin an der Offenbacher Albert-Schweitzer-Schule leitete sie auch Chöre. Zehn Jahre lang führten die Unter- und Oberstufenchöre dieser UNESCO-Projektschule unter ihrer Leitung im Sommer Musicals und im Winter Weihnachtskonzerte auf. Andrea wählte dazu das Motto „MUSIC4YOU – Miteinander, wie sonst?“.
In den Aufführungen wurden gesellschaftliche Themen wie die Macht des Geldes, Umweltfragen, Weltreligionen und Antisemitismus oder die Realisierung von Träumen aufgegriffen und umgesetzt.
Gemeinsame Chorfahrten während der Musical-Probenzeit führten in politisch und kulturell bedeutende Städte wie Berlin, Paris, Wien, Hamburg und Theresienstadt/Dresden. Die Projektarbeit erforderte von den jungen Leuten ein vielfältiges Engagement auch bei Bühnenbild, Ton, Licht sowie bei der Gestaltung der Kostüme. Das Miteinander in unterschiedlichen Aufgaben über Jahrgangsstufen hinweg schulte Schülerinnen und Schüler in so wichtigen Aspekten wie Ausdauer, Kreativität, Teamfähigkeit und Respekt. Diese Erfahrungen in der Chorarbeit mit 55 Konzerten betiteln die Mitwirkenden selbst rückblickend als ihre „schönsten Erlebnisse in der Schulzeit“.

Klassenzimmer mit Streichersatz

Ein besonderes Highlight war für Andrea zu Löwenstein die Arbeit in einer sogenannten Streicher-AG, bei der sie Schülerinnen und Schüler an Streichinstrumente heranführte. Die Musikpädagogin konnte erreichen, dass den Schülerinnen und Schülern ein Klassensatz an Streichinstrumenten zur Verfügung gestellt wurde. In einer Unterrichtseinheit sich dem Instrument nähern, Klang und Technik kennenzulernen und sich selbst auszuprobieren, erwies sich als ein richtiger Weg. Denn Andrea konnte immer wieder mehr als ein Dutzend ihrer Schülerinnen und Schüler für diese freiwillige Streicher-Arbeitsgemeinschaft gewinnen. „Die Arbeit in der AG erlaubte es mir, Talente zu fischen und jungen Menschen den Weg zum Einzelunterricht am Instrument zu ebnen“, betont Andrea.
In Gemeinschaft ein Musikstück zu erarbeiten, die Chance zu haben, als Solist aufzutreten, begeisterte die jungen Menschen, die aus vielen verschiedenen Ländern stammen. Musiknoten in Bewegung umzusetzen, überwindet sprachliche und kulturelle Barrieren.

Gemeinsames Musizieren erfordert fein abgestimmtes Aufeinander-Hören. Andrea ist davon überzeugt, dass Musik die Wahrnehmung des anderen schult. Ihre Schülerinnen und Schüler lernten auch, auf den Stimmklang der anderen zu hören, mit dem sie die Stimmung eines Menschen beurteilen können.
Der Stimme zu folgen, dies hat auch geistliche Dimensionen: Als 2003 der Band „Römisches Triptychon“ mit lyrischen Meditationen von Johannes Paul II. erschien, hatte Andrea Reuter die Idee, die Gedichte in einen musikalischen Rahmen zu stellen. Sie gewann den Komponisten und Organisten Naji Hakim und auch das Frankfurter „Haus am Dom“ für diese Idee. Die Uraufführung des Werkes für Sopran und Orgel fand am 8. Mai 2010 im Kaiserdom der Mainmetropole statt.
Musik hat die Fähigkeit, die Seele zu erheben und das Innerste in uns zu berühren. Das „Römische Triptychon“ ist wie ein Altarbild in drei Teilen aufgebaut: Der erste Teil reflektiert ein Staunen über das Dasein. Der große Mittelteil meditiert Fresken von Michelangelo an der Schwelle zur Sixtinischen Kapelle. Der dritte Teil erinnert an Abraham aus Ur, der wie wenige andere für den Menschen steht, der der Stimme Gottes folgt. In diesem Sinn ist das Werk ein Sinnbild für die tiefe Bedeutung des Hörens und Folgens auch in der Musik.
Kurz vor Ostern 2020 war dann plötzlich der Stecker gezogen. Um die Verbreitung des Corona-Virus zu stoppen, musste die gesamte Musikbranche ihren Beitrag leisten: Tourneeabsagen, Auftrittsverbote, Gastspielabsagen; alle Pläne wurden auf Eis gelegt. Dass die Starre über ein Jahr andauern würde, damit hatte damals niemand gerechnet. Was hat das für eine Kulturschaffende wie Andrea Reuter bedeutet? Wie hat sie auf die neue Situation reagiert?

Der Stimme der Orgel folgen: Die vielen Konzerte und die Zusammenarbeit mit einer ganzen Reihe von Organisten sowie die Tatsache, dass es direkt neben ihrer Offenbacher Schule eine große Kirchenorgel gab, erschienen Andrea zu Löwenstein wie ein Fingerzeig: Warum nicht die Zwangspause nutzen, um etwas Neues zu erlernen? Das Orgelspiel gerade als Dienst im liturgischen Feiern übte einen großen Reiz auf sie aus. Nach bestandener Prüfung übernimmt sie heute Orgeldienste in Frankfurter Kirchen.  Und sie schätzt die Orgel als Begleitinstrument ihrer Liedvorträge noch mehr.
Andrea zu Löwenstein interpretiert die vielen Zufälle auf ihrem künstlerischen und pädagogischen Weg als Fingerzeige, die es zu entdecken gilt und denen sie mit Aufmerksamkeit und Liebe folgen möchte. „Gott würfelt nicht.“ Diese Albert Einstein zugeschriebene Aussage hat sie schon immer beeindruckt. Dahinter verbirgt sich die Erkenntnis, dass nichts zufällig geschieht, sondern dass Menschen geführt sind, wenn sie der Stimme folgen.
„Es sind die vielen kleinen Augenblicke, auch die vergänglichen Momente der Musik, die einen Weg weisen können. Im Vertrauen, dass da einer ist, der unser Bestes will“, so die Künstlerin.
Bernd Klotz


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, November/Dezember 2024.
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