8. Oktober 2025

Eine Bar als Hörsaal

Von nst5

Offener Brief an Mathias Mwangi, Mutinda Kilonzo und Keith Ang’ana*


Liebes „Drunken Lectures“-Team!

Bildung ist der Schlüssel für die Zukunft: nicht nur, um einen Beruf ergreifen, unabhängig sein und seinen Lebensunterhalt verdienen zu können, sondern auch für die Entwicklung der Gesellschaft. Aber in Kenia können sich viele junge Leute ein Studium nicht leisten. Mit den „Drunken Lectures“ gehen Sie seit Februar einen neuen Weg, um jüngeren Menschen Wissen zu vermitteln. Er kostet nicht viel und verbindet das Nützliche mit dem Angenehmen. 
Der Ort: eine Bierbar in Nairobi mit Platz für 120 Gäste. Der Termin: jeden zweiten Montag von 17.30 bis 20.00 Uhr. Das Publikum: Männer und Frauen, die meisten zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Ihre Idee: einen Raum zum Lernen ohne den Druck von Prüfungen und die Last der Studiengebühren anbieten. Zugleich nutzen Sie das Fachwissen junger Erwachsener und geben ihnen als Vortragende eine Bühne.
Der Name „Betrunkene Vorlesungen“ bezieht sich wohl auf das Ambiente, denn selten betrinken sich Ihre Gäste. Zwar gibt es mit der Teilnahmegebühr von umgerechnet 3,50 Euro das erste Bier gratis, aber viele greifen auch gern zu Schwarzem Tee mit Milch oder zu Dawa, dem heißen kenianischen Ingwer-Zitronen-Honig-Getränk.
Die kolonialen Wurzeln aktueller Polizeigewalt in Kenia, das neue Steuergesetz, wie man Bier braut, wie sich Kunst und Politik beeinflussen, der Ruanda-Kongo-Konflikt, die biologische Evolution männlicher und weiblicher Anziehung, die Rolle von Journalismus und Social Media in der Demokratie: Sie haben schon ganz unterschiedliche Themen behandelt. So betreiben Sie Bildung nah dran an dem, was Ihre Gäste im Alltag bewegt.
Sie wissen, dass Sie junge Leute in ihrer Freizeit mit Frontalunterricht nicht begeistern würden. So sitzen Ihre Gäste in Tischgruppen zusammen, die zu Beginn eine provokante Frage vorgelegt bekommen. Darüber debattieren sie und sind so schnell mitten im Thema des Abends. Anschließend werden die Gruppen nacheinander aufgerufen. Jeweils ein Gruppenmitglied präsentiert im Plenum die wesentlichen Punkte ihrer Debatte. Dann erst kommen die Referenten zum Zug und können sich auf die Gruppenergebnisse beziehen. Eine Präsentation der zentralen Inhalte des Vortrags können die Gäste über die Bildschirme der Bar oder auf ihrem Handy mitverfolgen. Sie können Fragen stellen, die die Referenten beantworten oder im Plenum diskutieren lassen, bevor ein DJ kenianische Musik auflegt und der Abend ausklingt.
Viele junge Leute in Nairobi, so haben Sie beobachtet, sind nicht mehr selbstverständlich gemeinschaftsorientiert wie früher: Einzelgängertum und Vereinsamung verbreiten sich. Ihre „Drunken Lectures“ sind ein Rezept dagegen: Sie bringen Menschen zusammen, ermöglichen Gemeinschaft, fördern Freundschaften und – durch das öffentliche Mitdebattieren – ihre Selbstsicherheit.
Ihr Vorbild für das gemeinschaftliche Lernen sind die griechischen Philosophen, die sich und ihre Schüler in Foren weiterbildeten. Ihr Konzept ist bestens auf die modernen jungen Menschen in Nairobi zugeschnitten: ein beeindruckend einfacher Beitrag, um sie für die Zukunft zu wappnen und Gesellschaft zu gestalten!
Mit freundlichen Grüßen,
Clemens Behr, Redaktion NEUE STADT


* Mathias Mwangi, Mutinda Kilonzo und Keith Ang’ana
haben die „Drunken Lectures“ gegründet. Abends bei einem Glas Bier oder einem anderen Getränk können junge Menschen Vorträge über Wirtschaft, Politik, Philosophie und andere Themen hören und darüber debattieren: ein alternatives Bildungsprojekt.
Drunken Lectures auf X (Twitter)


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, September/Oktober 2025.
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