Aktiv aushalten
„Die Welt wird immer komplizierter.“
„Das alles ist doch kaum noch durchschaubar.“ – „Da blicke ich nicht mehr durch.“ – Sätze mit diesem Grundtenor höre ich immer wieder und denke sie oft genug auch selbst.
Ein Weg, um besser verstehen zu können, ist vereinfachen: Die Dinge auf wenige Grundaussagen runterbrechen. Aber die Wirklichkeit lässt sich selten so erklären. Wer vereinfacht, läuft Gefahr, den Situationen und Themen, vor allem aber den Menschen nicht gerecht zu werden.

Unsere Welt ist, wie sie ist. Die (zunehmende) Komplexität zu leugnen, ist keine Lösung, die auf Dauer trägt. Eher führt sie zur Weltflucht oder zu einseitigen, auch extremen Positionen und Einschätzungen. Wie also damit umgehen? Komplexität aushalten, sie immer neu zulassen, kommt mir als erstes. Vor Kurzem war in einem Gespräch mit guten Freunden immer wieder vom „Aushalten“ die Rede; manchmal hatte das den Beiklang von „sich ergeben, weil einem halt nichts anderes übrigbleibt“. Sehr viel häufiger erlebe ich jedoch, dass sich dahinter ein sehr aktives Geschehen verbirgt: mich interessieren, mich schlau machen, mich dem Gespräch stellen, Fragen zulassen, akzeptieren, dass Lösungen Zeit brauchen. Das ist anstrengend und – herausfordernd. Es bedeutet, mich bewusst in eine Situation, in eine Spannung hineinstellen. Nicht davor weglaufen. Sie zulassen und – ja – aushalten. Ein dynamischer Prozess.
Ein zweites: Mir eingestehen, dass ich allein nicht alles weiß und durchschaue, die Komplexität eben nicht verstehe. Ich brauche andere und deren Blickwinkel – wie den von Joseph Sievers auf die Lage im Nahen Osten oder die Beiträge im Schwerpunktthema – um Dinge, Themen, Zusammenhänge ein wenig vollständiger zu erfassen. Das Gespräch unter Freunden, die Begegnung mit anderen empfinde ich – auch wenn wir ringen, uns auch gemeinsam hilflos fühlen, manchmal streiten, dann wieder neu hinhören – oft wie ein Aufatmen: Meist gehe ich daraus zuversichtlicher hervor, kann manchmal sogar wieder mit einer gewissen Leichtigkeit auf die Dinge sehen.
Aktiv und dynamisch aushalten – für mich sind innere Haltungen damit verbunden, die ich in einer biblischen Person wahrnehme: Maria unter dem Kreuz. Sie stand da, aufrecht – so denke ich mir – in dieser zerreißenden Situation, sie läuft nicht weg, hält die Zerrissenheit aus. Und ihr sterbender Sohn verweist sie auf den Menschen, der mit ihr dort steht – gibt ihr in Johannes einen Weggefährten. Für mich ist sie immer wieder Trost und Ermutigung, auch Vorbild im aktiven Aushalten.
Eine gute Zeit,
Ihre
Gabi Ballweg
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, September/Oktober 2025.
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