19. November 2015

Kolumbien legt Termin für den Frieden fest

Von nst1

Der 23. März soll es sein. Dann wollen die Regierung in Bogotá und die FARC-Guerilla einen neuen Friedensvertrag unterzeichnen. Endet damit in Kolumbien eine Ära ständiger Gewalt?

Man könnte es eine „Verabredung mit dem Frieden“ nennen: die historische Vereinbarung zwischen der Regierung von Präsident Juan Manuel Santos und der FARC-Guerilla in Kolumbien. Nach den Ankündigungen Santos’ und des Anführers der bewaffneten Gruppe Timoleón Jiménez, genannt Timochenko – mit bürgerlichem Namen Rodrigo Londoño, werden beide Seiten am 23. März 2016 das Ende des bewaffneten Konflikts im Land unterzeichnen. Innerhalb von zwei Monaten muss die FARC dann die Waffen abgeben.
Die Nachricht wurde am 23. September in Kuba bekanntgegeben, wo drei Jahre lang verhandelt worden war, gerade als Papst Franziskus das Land wieder verließ. Es schien beinahe eine Frucht seines Besuchs, hatte Bergoglio bei seiner Ankunft in Kuba doch unterstrichen, wie wichtig es sei, den Frieden in Kolumbien wiederzuerlangen.
Möglich wird die Unterzeichnung des Dokuments, das ein düsteres Kapitel der kolumbianischen Geschichte abschließen soll, weil es zu einem Einvernehmen über die letzten, heikelsten Punkte der Verhandlungen kam: wie mit den zahlreichen Kriegsverbrechen rechtlich verfahren werden soll, die von beiden Seiten begangen wurden, und wie die FARC in die Legalität zurückgeholt werden kann, so dass sie sich in das demokratische System des Landes einfügt.
Was das Rechtliche betrifft, ist eine Amnestie für politische und vergleichbare Straftaten vorgesehen. Nicht darunter fallen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Um sie wird sich ein Sondergericht kümmern, zusammengesetzt aus kolumbianischen Richtern und ausländischen Juristen. Angeklagte, die ihre Schuld eingestehen, sollen mit fünf bis acht Jahren regulärer Haft bestraft werden. Zusätzlich zu der relativ geringen Strafe müssen sie Kriegsschäden wie zum Beispiel Minen beseitigen und sich am Bau von Schulen beteiligen. Arbeits- und Bildungsmaßnahmen sollen die Wiedereingliederung in die Gesellschaft erleichtern. Wer seine Mitverantwortung nicht zugibt, jedoch für schuldig befunden wird, muss mit bis zu zwanzig Jahren Gefängnis rechnen.
Was den zweiten Punkt angeht: Die Regierung wird an dem von beiden Seiten unterstützten Ziel der Umwandlung der FARC in eine politische Bewegung mitarbeiten. So soll vermieden werden, dass die Mitglieder der Guerilla, einmal entwaffnet, Racheakten oder Repressalien zum Opfer fallen.
In Kolumbien waren die Reaktionen auf das Abkommen im Wesentlichen positiv. Jedem ist klar, dass der Konflikt beendet werden muss. Die Frage ist, ob der Preis dafür akzeptiert wird. Während die von Santos angeführten Teile der Gesellschaft, die den Friedensprozess unterstützen, die in Kuba getroffenen Vereinbarungen befürworten, ist es für das von Ex- Präsident Álvaro Uribe angeführte konservative demokratische Zentrum unannehmbar, Subversive und Mitglieder der Armee auf die gleiche Ebene zu stellen. Die Vorstellung, innerhalb weniger Jahre könnten die FARC-Anführer mit ihnen im Parlament sitzen, weisen sie prinzipiell zurück.
In der Tat ist die FARC wenig populär. Bis vor wenigen Monaten ergaben Umfragen, dass 82 Prozent der Kolumbianer der Auffassung sind, die Guerilla müsse der Justiz in irgendeiner Form Rechenschaft ablegen. In der anderen Waagschale liegt die Aussicht auf ein mögliches Ende des ermüdenden Konflikts, bei dem die Guerilla ganze Regionen des Landes beherrscht und den Drogenhandel kontrolliert hat, ihre Haupteinnahmequelle neben illegalem Bergbau und Entführungen. Ex-General Herlindo Mendieta, der 12 Jahre von der FARC als Geisel gehalten wurde, hält für ausschlaggebend, ob die Opfer mit den alternativen Strafen einverstanden sind: „Einer der wichtigsten Punkte ist, dass die FARC ihre Opfer und den von ihr verursachten Schaden in einem Reueakt, einem ‚Mea culpa’, anerkennt.“ Der Armeechef glaubt: Wenn die Guerilla hilft, die „Desaparecidos“ – die verschwundenen Opfer – zu finden, wenn sie die Entführten freilässt „und garantiert ist, dass Wiedergutmachungen geleistet werden und sich die Taten nicht wiederholen, werden sich die Opfer auf eine Form der Bestrafung einlassen, die auf Inhaftierungen verzichtet.“
Der Standpunkt ähnelt dem von Gloria Salamanca, die die Angehörigen der Desaparecidos vertritt: „Ich akzeptiere, dass die FARC-Mitglieder, die ihre Verbrechen eingestehen, nicht ins Gefängnis müssen. Aber wir sind 7,5 Millionen Opfer des Konflikts, darunter einige Tausend Desaparecidos! Jemand von den Guerilleros muss doch wissen, was mit unseren Familienmitgliedern passiert ist und wo ihre sterblichen Überreste zu finden sind!“ Aufklärung der Taten ja, Inhaftierung der Täter nein – nicht alle denken so: Farid Alberto Usme, Opfervertreter im Hauptstadt-Bezirk Antioquia, ist der Ansicht, Zuchthaus müsse sein. „Wichtig ist, dass die internationale Gemeinschaft an diesem Prozess beteiligt ist“, meint hingegen versöhnlich die Senatorin Clara Rojas, die sechs Jahre lang von der Guerilla verschleppt worden war. Sie befürwortet, dass die Schuldigen – sofern ihre Reue erwiesen ist – soziale Dienste ableisten, die ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft erleichtern.
Der Weg, den Kolumbien noch vor sich hat, ist lang. Die erreichte Vereinbarung setzt andere Guerillagruppen wie die ELN (siehe Kasten) unter Druck, die Gelegenheit zu nutzen und sich dem Befriedungsprozess anzuschließen. Wiedergutmachungen für die Opfer, Rückkehr der vor den Guerilla-Attacken Geflüchteten, Verteilung von Grund und Boden, von Arbeitsplätzen: Zurzeit wird in Havanna an den Details für den Friedensvertrag gefeilt. Der muss dann von den Kolumbianern, die ein Leben in Frieden und Würde herbeisehnen, in einem Referendum gebilligt werden.
Alberto Barlocci, Ciudad Nueva, Südamerika

Guerilla-Krieg in Kolumbien
Die linksgerichtete Organisation FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) entstand 1964. Ihre Mitglieder, anfangs viele Bauern und Lehrer, kämpften gegen Großgundbesitzer und Regierung. In den jahrzehntelangen Konflikt waren weitere Rebellengruppen wie die marxistische ELN (Ejército de Liberación Nacional – Nationale Befreiungsarmee), rechte Paramilitärs und Drogenhändler verstrickt. Rund 220 000 Menschen wurden getötet, sechs Millionen in die Flucht getrieben.

INTERVIEW

Die Vergangenheit überwinden

Herr Civico, wie sah Ihre Tätigkeit als Konfliktforscher in Kolumbien aus? Was konnten Sie für den Frieden erreichen?
ALDO CIVICO: Seit 2000 war ich immer wieder in Kolumbien. Dort hatte mich die Universität von Antioquia eingeladen, in einem Fischerdorf an der Grenze zu Panama einen Workshop für Gemeindeleiter anzubieten. Hier hatten rechte Paramilitärs ein Massaker angerichtet. Mich hat nicht nur das Leid beeindruckt, das diese Menschen ertrugen, sondern auch ihre Widerstandsfähigkeit. Das erstaunliche an dem Workshop war die Erfahrung, dass man auch inmitten größter Gewalt Räume des Friedens schaffen kann. Daher begann ich, als Anthropologe in Kolumbien zu forschen. Ich gewann das Vertrauen von Personen, die Akteure in dem bewaffneten Konflikt waren; viel Zeit habe ich damit verbracht, die Lebensgeschichten der Guerillakämpfer und Paramilitärs kennenzulernen. So ergab sich die Gelegenheit, an Waffenstillstandsgesprächen zwischen Regierung und ELN mitzuwirken. Ich habe Bezirksverwaltungen, Jugendbewegungen, aber auch Stars wie den Sänger Juanes und den Fußballer James Rodriguez beraten, um Friedensstrategien zu entwickeln und die Gemeinschaften zu verändern, in denen sie leben und wirken. Es war für mich eine unglaubliche Lern-Erfahrung – Gelegenheit, geistlich zu reifen und meinen Beitrag zu einer friedlicheren und geeinteren Welt zu geben.

Inwiefern hat das Friedensabkommen vom 23. September Aussicht auf Erfolg?
ALDO CIVICO: Ich habe große Hoffnungen, dass Kolumbien endlich den Frieden erlebt! Das kann keine der jetzt lebenden Generationen von sich sagen. Die Kolumbianer sind ein Volk, das mit dem Frieden zwar vertraut, für das er jedoch auch etwas vollkommen Neues ist. Beide Parteien, Regierung und Guerilla, sind zu dem Schluss gelangt, dass sie mit Gewalt nicht zum gewünschten Ergebnis kommen. Die Unterzeichnung des Friedensabkommens wird ein erster wichtiger Schritt sein, weil es das kollektive Selbstbild verändert. Die größte Herausforderung aber ist die Zeit nach dem Konflikt, denn die Kolumbianer werden lernen müssen, im Frieden miteinander zu leben, indem sie eine politische Kultur fördern, die ohne Gewalt auskommt. Dabei setze ich auf die junge Generation und die Frauen. Ein großer Teil der Bevölkerung ist darauf erpicht, die Vergangenheit zu überwinden und dem Land einen neuen Weg zu eröffnen. Die internationale Gemeinschaft wird eine bedeutende Rolle spielen, indem sie den Kolumbianern zutraut, auf dem Pfad des Friedens voranzugehen. Es ist spannend, wie die Geschichte Kolumbiens ein neues Kapitel aufschlägt!
beh

Aldo Civico, gebürtiger Italiener, hat als Friedens- und Konfliktforscher in Kolumbien gearbeitet. Er ist Mediator und Professor für Anthropologe am von ihm mitgegründeten Internationalen Institut für Frieden an der Rutgers University in Newark, New Jersey. Zuvor hat er das Center for International Conflict Resolution an der Columbia University in New York geleitet.

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2015)
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